DAS WIRKEN DES WIE ÜBERALL DEM DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN KRIEG ENTWACHSENEN KRIEGERVEREINS MIT DER ALLJÄHRLICHEN FESTLICHEN BEGEHUNG DES SEDANTAGES UND AUCH DES TAGES DER SCHLACHT BEI GRAVELOTTE, DAZUHIN DIE WIEDERGRÜNDUNG DES TURNVEREINS HEBEN AUF DIE PFLEGE DER ERINNERUNG AN DEN ERRUNGENEN SIEG UND DES DANKERFÜLLTEN GEDÄCHTNISSES DER GEFALLENEN SOWIE DES WEHRGEDANKENS AB; HINZU TRITT DURCH DIE IM ZUGE DES KRIEGES GEWONNENE REICHSEINHEIT DER DAS GESAMTE DEUTSCHE KAISERREICH ERFASSENDE EXTREME NATIONAL-, KAISER- SOWIE BISMARCK-KULT, AUßERDEM DIE HOHE VEREHRUNG DES GENERALSTABSCHEFS HELMUTH VON MOLTKE, WAS SICH ALLES IN DER WIMPFENER ZEITUNG UND DORT INSBESONDERE IM ZUSAMMENHANG MIT DEN REICHSTAGSWAHLEN WIDERSPIEGET.
- Der 1873 gegründete Kriegerverein pflegt die Erinnerung an den im Deutsch-Französischen Krieg errungenen Sieg und an dessen Opfer sowie das Nationalbewusstsein und den Wehrgedanken in extremer Art und Weise.
Mag auch in das von Stadtpfarrer Klein in der Versammlung der katholischen Männer ausgangs des Jahres 1890 ausgebrachte Hoch auf Papst und Kaiser eher taktischer denn von Herzen kommender Natur gewesen sein, so gab es gewiss in den Reihen der Teilnehmer des Krieges von 1870/71 keinerlei trennende Schranken. Dies dürfte auch für die auf den letzten Februar-Sonntag des Jahres 1873, nachmittags 3 Uhr, in das Stumpf’sche Wirtslokal (gemeint der rechterhand an der Einmündung der Feuerseestraße in die beginnende Straße nach Rappenau gelegene Gastwirtschaft mit Bierbrauerei „Zum Hirsch“, später „Zum Deutschen Kaiser“) einberufenene „Soldaten-Versammlung“ zum Zwecke der Gründung eines Kriegervereins gelten. Diese war erfolgreich und brachte den Eintritt von zunächst 42 aktiven Mitgliedern.[1] Mitte September schließt sich der junge Verein dem hessischen Landesverband der Kriegervereine „Hassia“ an. Der an die „Soldaten“ gerichtete Aufruf und der zunächst verwendete Name „Veteranenverein“ zeigt, dass es sich bei den Mitgliedern zunächst nur oder vornehmlich um ehemalige Teilnehmer des 1870/71er- und wohl auch des 1866er-Krieges handelte. 1 ¼ Jahre später, am 30. August 1874, erscheint bereits der Name „Krieger-Verein“ und kann dieser seine Fahnenweihe begehen. Der lange Bericht des „Wimpfener Bote“ über die festlich begangenen beiden Weihetage verdient es, vor allem im Blick auf die dort berichtete flammende Festrede des Ritterwirts und Mitinhabers der Papierfabrik WILHELM VÖRG, die den vaterländisch-wehrhaftigen Geist der damaligen Zeit verkörpert, hier ungekürzt wiedergegeben zu werden. Dazuhin ist in diesem Bericht ein getreues Bild dessen ausgebreitet, was sich künftig über die gesamten fast fünf Jahrzehnte des neuen Deutschen Kaiserreiches hinweg im überbordenden Bereich der vaterländischen Feste abspielen wird (in der Vorlage gesperrt gedruckte Begriffe finden sich hier durch Unterstreichung hervorgehoben):
„Locale Nachrichten: Wimpfen, 1. Sept. Das am letzten Sonntag abgehaltende Fest der Fahnenweihe des hiesigen Krieger-Vereins, zu dem aus Nah und Fern eine große Anzahl Gäste sich eingefunden hatten, ist, begünstigt durch die herrlichste Witterung, als ein sehr gelungenes zu bezeichnen. Die Bedeutung dieser Feier wurde durch die Anwesenheit von 23 anwesenden Vereinen, welche schon in den Vormittagsstunden zum größten Theil angekommen waren, Ausdruck gegeben. Nachdem um halb 2 Uhr die Aufstellung am Kelterhaus beendigt und der Zug, voran 6 Mitglieder des Kriegervereins zu Pferd, dann die Musik, 39 Festdamen, der Krieger-Verein Wimpfen, der Gesangverein Concordia und an deren Anschluß die übrigen Vereine, auf dem Festplatz angekommen war, begann daselbst die Feierlichkeit mit einem Gesang-Vortrag des hiesigen Gesangvereins Concordia, worauf der Vorstand des Wimpfener Krieger-Vereins, Herr Kreisbauaufseher Braun die Anwesenden namens der Stadt Wimpfen und des Kriegervereins willkommen hieß. Hieran schloß sich die Festrede, gesprochen von Herrn Fabrikant Vörg. Im Eingang erinnert der Redner an die Zeit des ersten Napoleons, unter dessen Hand sich Deutschland 6 schwere Jahre beugen mußte, während aber auch allgemein der Gedanke unter dem Volke war, daß er der Unbesiegbare sei und unter dessen Joch man sich eben schicken müsse. Aber schon damals sollte dieser Gedanke nicht für immer die Welt beherrschen, denn als er nach seinem Feldzug in Rußland, wo ihm fast ganz Europa seine Streiter zur Verfügung stellte, nur noch mit einem kleinen Rest derselben zurückkehrte, erwachte in Preußen die alte Hoffnung, der alte Muth wieder, und Alles, was Waffen tragen konnte, drängte sich damals aneinander, um das Joch des Tyrannen zu zerbrechen, was auch geschah; das gleiche, sagt der Redner weiter, erlebten wir auch vor 4 Jahren, aber in weit größerer Bedeutung. Mit der vollen und wahren Begeisterung kamen die muthigen Schaaren deutscher Krieger von der Elbe, Oder, Main, Neckar, Donau u. s. w., zogen unter den Klängen der Wacht am Rhein dem Flusse zu, dessen Ufer zu überschreiten sie dem Feind kräftig wehrten. Von Sieg zu Sieg eilten die tapferen Schaaren, bis sie endlich den Frieden erzwangen und unter dem tausendfältigen Rufe der Begeisterung in ihre Heimat zurückzogen. Der Redner bespricht sodann den Werth der Verbrüderung der Kriegskameraden zu Corporationen im bürgerlichen Leben und sagt unter Anderem: Zweck dieses Vereines ist die Vereinigung der Männer, die Schulter an Schulter im Feuer gestanden, damit diese Waffenbrüder auch in ihrem bürgerlichen Leben als Kameraden neu verbunden bleiben, Frieden und Eintracht unter sich und mit allen Vereins-Kameraden zu halten. Das hohe Ziel aber, die Liebe zum großen deutschen Vaterlande, Liebe zu Einigkeit zu pflegen, den mannhaften Sinn zu erhalten, der für Alles Rechte einsteht, und mit allem Schlechten sich nie in Unterhandlung einläßt; die Blüthen, die die Begeisterung der großen Zeit erschlossen, zu schönen Früchten reifen zu lassen, die deutsche Kraft zu pflegen, dieselbe nicht unnütz zu vergeuden; denn nur ein einfaches mäßiges deutsches Volk ist stark, zuchtloser Sinn schwächt den Einzelnen, wie das ganze Volk. Am Schlusse sagt dann der Redner: ‚Drum deutsche Krieger, erhaltet Euch Euren guten Sinn, wahret Euch die deutsche Kraft, damit Ihr dann auch wieder in kommenden Tagen mit der alten Begeisterung rufen könnt: Lieb Vaterland kannst ruhig sein. Wahret eure Treue dem großen deutschen Vaterland, unserem Kaiser und Reich, lasset Euch durch Nichts, weder durch politisch noch religiöse Ansichten, darin wankend machen! Ans Vaterland ans theure, schließ’ dich an, das halte fest mit deinem ganzen Herzen!’ Mit einem Hoch auf Deutschland, in welches sämmtliche Anwesende kräftig einstimmten, schloß der Redner.- Die auswärtigen Vereine brachten sodann ein Hoch auf die Stadt Wimpfen aus. Später folgten noch Musik- und Gesang-Vorträge und war die fröhlichste Stimmung auf dem Festplatze. Mit Einbruch der Dämmerung begaben sich die fremden Vereine auf den Heimweg und gegen 8 Uhr der hiesige Kriegerverein, sowie auch ein Theil der übrigen Festgäste theils zum Ball in den ‚Ritter’ und ins ‚Mathildenbad’, wo die Unterhaltung bis zur Morgenstunde währte. Die Enthüllung der Vereinsfahne erfolgt morgen, als am Jahrtage des Sedanfestes, welcher sich in Verbindung mit dem Gesangverein Concordia eine allgemeine Unterhaltung auf dem Festplatz anschließt.“[2]
Die am Folgetag (Sedantag) feierlich enthüllte Fahne des Kriegervereins, deren Kosten durch eine vom Gemeinderat bewilligte öffentliche Kollekte sowie 50 fl aus der Gemeindekasse bestritten wurden, ist folgendermaßen beschrieben: „Die Fahne enthält auf der einen Seite auf weißem Grunde den deutschen Reichsadler mit den Kriegsinsignien und Emblemen mit der Umschrift ‚Krieger-Verein zu Wimpfen 1870/71’ und auf der anderen Seite auf gelbem Grunde die Inschrift ‚Mit Gott für Kaiser, Großherzog und Vaterland’ mit einem Eichenlaubkranz umgeben, welcher in dem darein geschlungenen Bande die Schlachtennamen Wörth, Weißenburg, Sedan, Metz, Gravelotte, Paris, Orleans, Le Mans, Straßburg aufführt; ferner ist oben auf rothem Grunde zu lesen: ‚Gott war mit uns’, unten: ‚ihm sei die Ehre’. Auf beiden Seiten ist außerdem an jeder Ecke eine goldene Krone angebracht.“ [3]
Die Festhaltung der Namen der vielen Orte auf der Fahne, bei denen siegreiche Schlachten geschlagen worden sind, zeigt, dass es dem 1873 gegründeten Kriegerverein vor allem darum ging, die Erinnerung an die Kämpfe und Siege des Deutsch-Französischen Krieges und speziell an diejenigen Plätze zu pflegen, wo auch die Wimpfener Soldaten im sieghaften und verlustreichen Einsatz der hessischen 25. Division gewesen sind. Dies wird vor allem auch daraus deutlich, dass der Verein im Jahre 1876 eine besondere Zusammenkunft am 18. August veranstaltet hat, „um das Andenken an die für die hessische Division so denkwürdige Schlacht bei Gravelotte“ zu feiern, der dann wie jedes Jahr die Beteiligung an der Sedanfeier zum 2. September gefolgt ist. Aus der anlässlich der im Jahr 1933 anlässlich des 60-jährigen Jubiläums herausgegebenen Chronik des Kriegervereins erfahren wir, dass innerhalb desselben im Jahre 1881 „eine langjährige, sichere und zielbewußte Führung“ durch den Kriegsteilnehmer KAUFMANN WILHELM TRAUTMANN begonnen hat, die über 3 Jahrzehnte hinweg, unterstützt durch den AMTSGERICHTSDIENER UND -SCHREIBER sowie GERICHTSVOLLZIEHER MICHAEL LENZ als „Vicepräsident“, bis 1910 gegangen ist. Weitere Vorstandsmitglieder waren damals: FRIEDRICH FEYERABEND II. (Bäcker und Wirt), KARL MÜNCH (Landwirt), WILHELM KLENK (Maurer) und MATH. HAMMER (Steueraufseher). Bei den beiden Letztgenannten handelt es sich um Teilnehmer des Krieges von 1870/71. Der Umstand, dass die anderen Genannten keine Kriegsteilnehmer gewesen sind, zeigt, dass bald auch solche in den Kriegerverein aufgenommen worden sind.
Bei den Kriegsteilnehmern handelte es sich großteils um die Männer, die, nachdem im und nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 das hessische Militär als „Großherzoglich Hessische 25. Division“ in preußische Armeeverbände eingeliedert war, ihre mit dem 20. Lebensjahr beginnende „aktive“ Militärdienstpflicht von in der Regel 2 (bei der Kavallerie und der Marine 3) Jahren in den hessischen Garnisonen Worms oder Darmstadt oder Mainz erfüllt bzw., wie damals gesagt, „des Kaisers Rock getragen“ oder „bei den Preußen gedient“ hatten. Zu dreijähriger Militärdienstzeit Eingezogene konnten, wenn sie sich gut geführt hatten, u. U. auf Antrag, z. B. bei dringend notwendiger Unterstützung der Familie, nach zweijähriger Dienstzeit nach Beendigung der jährlichen Manöver beurlaubt werden. Die bestehende Militärdienstpflicht manifestiert sich vor allem darin, dass nach der Reichsgründung Jahr für Jahr gleich nach Jahresanfang in der Zeitung von der Großherzoglich hessischen Bürgermeisterei Wimpfen eine „Bekanntmachung, Betreffend. Das Kreisersatzgeschäft“, ergangen ist, in der die jeweils in diesem Jahr 20 Jahre alt werdenden jungen Männer als sog. Militärddienstpflichtige aufgefordert wurden, zum Zwecke ihrer Eintragung in die sog. Stammrolle unter Vorlage ihres Geburtsscheines sowie ggfls. ihres sog. Losungs- und Gestellungsbefehls sich im Laufe der zweiten Januar-Hälfte unter Androhung einer Geldstrafe im Versäumnis- oder Weigerungsfalle zu melden.
Siehe hierzu als Beispiel die diesbezügliche im beginnenden Janur 1873 im „Wimpfener Bote“ erschienene und uns nur noch beschädigt erhalten gebliebene amtliche Anweisung in
- Abb. F 1: Bekanntmachung – Betreffend: Das Kreisersatzgeschäft von 1873.[4]
Aufgrund der Jahr für Jahr wachsenden Anzahl „Gedienter“ beschloss der Kriegerverein im Herbst 1879, auch jüngere ehemalige Soldaten mit mindestens drei Dienstjahren in den Verein aufzunehmen. Als nunmehr nicht mehr „Aktive“ (1. Stufe) gehörten diese der „Reserve“ (2. Stufe) an und waren damit bis zu 7 Jahre nach ihrer aktiven Wehrpflichtzeit zur Teilnahme an Kontrollversammlungen und zwei (bis zu achtwöchigen) militärischen Übungen verpflichtet. Über die Ausnahme-Regelungen für die sog. Einjährig-Freiwilligen soll an anderer Stelle im Zusammenhang mit der Gründung der Realschule berichtet werden. Bis zu ihrem 39. Lebensjahr hatten die Reservisten dann der „Landwehr“ (3. Stufe) zur Verfügung zu stehen, in deren Rahmen sie auch zu zwei Übungen herangezogen werden konnten. Hier seien drei in der Zeitung gefundene Beispiele nachträglicher Heranziehung ehemaliger „Gedienter“ aufgeführt:
– Im Oktober 1874 fand auf der Chaussee zwischen den beiden Wimpfen die sog. Herbstkontrollversammlung statt, an der sämtliche Mannschaften der Reserve und Landwehr, die Dispositionsurlauber aller Waffengattungen mit Einschluss der zur Disposition der Ersatzbehörden entlassenen Mannschaften zu erscheinen hatten.[5]
– In der zweiten Hälfte der 1880er Jahre erhielten Reservisten des öfteren, so z. B. 18 solche im Sommer 1887, einen Gestellungsbefehl zu einer 12-tägigen Übung mit dem neuen Repetiergewehr.
– 1892 bekamen ebenso Mannschaften der Reserve und Landwehr aus den Jahren 1881 – 1887 einen solchen für eine 10-tägige Ausbildung an demselben.
Bis zum 45. Lebensjahr waren die „gedienten“ Männer dann dem „Landsturm“ (4. Stufe) zugeteilt. Alle diese Gruppen konnten im Kriegsfall zum aktiven Einsatz mobilisiert werden.
Zum Zwecke der raschen organisierten Erfassung im Kriegsfall war das Großherzogtum Hessen zusammen mit allen anderen Ländern des Deutschen Kaiserreiches 1875 in sog. Landwehr-Bezirke eingeteilt worden. Wie die
- Abb. F 2: Landwehr-Bezirks-Einteilung für das Großherzogtum Hessen vom 25. 02. 1875[6]
zeigt, war das zum Kreis Heppenheim gehörige Wimpfen mit allen seinen Teilorten (zusammen mit Heppenheim und einem Teil der Orte dieses Kreises) der 4. Kompanie Heppenheim als Teil des 2. Bataillons Erbach im Odenwald zugeordnet, das wieder Bestandteil des Großherzoglich Hessischen Regiments Nr. 117 und dieses wieder Teil der 50. Großherzoglich Hessischen Infanterie-Brigade gewesen ist. Zwar mussten öfters, je nach Jahrgangsstärke und Zahl der freien Militärstellen, nur Teile der wehrfähigen Männer eines Jahrgangs einrücken, wobei die Auswahl der jeweiligen Militärpflichtigen durch Losziehung am sog. Losziehungstag erfolgte. Z. B. wurden 1891 von 43 Militärpflichtigen nur 18 „ausgehoben“. Weite Teile der männlichen Bevölkerung hielten den militärischen Schutz des Vaterlandes vor der Bedrohung durch den „Erbfeind“ Frankreich sowie andere Anliegerstaaten des neugegründeten Deutschen Reiches für unabdingbar und sahen sich in der Pflicht, die militärischen Traditionen durch den Beitritt zum Kriegerverein zu pflegen. So wurde auch die jährliche Musterung der auf die 20 Jahre zugehenden jungen Männer ein wichtiges, freilich auch oft ausartendes, Lebensereignis, das von FRIEDRICH FEYERABEND in seiner Lebensschilderung „Meine Heimat und ich – von mir und über mich“[7] folgendermaßen dargestellt wird:
„Ja, so ein Musterungstag der Rekruten; das war so etwas Stolzes, wenn der heroische Rekrut, mit Bändern geschmückt und mit einem Zinkblechschild auf der Brust, worauf Artillerie oder Infanterie stand, und dann die 6 Mann starke Musikkapelle voran in forte fortissimo durch die Straßen schmetterte, wobei sie allerdings vor jeder Wirtschaft energisch Halt machte, bis zuletzt sich die Fanfarenmärsche in lauter Misstöne auflösten; das war für uns eine Herrlichkeit. Allgemein bedauerten wir die Brustgeschmückten mit ‚Zurückgestellt’, welche jedoch bei dem Umzug in keiner Weise den Leistungen nachstanden. Hierbei lernten wir schon die eingelebten Soldatenlieder, die allerdings altertumswürdig waren, die wir aber in späteren Jahren gebrauchsfertig aus unserem Schatzkästlein auskramen und verwenden konnten.“
Freilich gab es auch junge Menschen, die das Militärische und Soldatsein mit seinem Drill und Verlangen nach Gehorsam nicht behagte oder aus ideologischen Gründen um den „Dienst am Vaterland“ herumzukommen suchten, wie z. B. jene drei Wimpfener JOHANN FR. LINK, JOHANN CHR. STIRN und CARL CHR. STIRN, die ausgangs Dezember 1878 vom Bezirksstrafgericht Darmstadt zu 150 Mark Geldstrafe verurteilt wurden, weil sie sich dem Militärdienst entzogen hatten. Die Ableistung der Militärpflicht war im Kaiserreich wie auch zuvor schon etwa im Großherzogtum Hessen so unabdingbar an jeden gesunden jungen Mann gebunden, dass einer Auswanderung in ein anderes Land die formelle Entlassung aus der Militärpflicht vorausgehen musste und unerlaubtes Auswandern unter Strafe stand. Wimpfens Gemeinderat fasste Mitte Januar 1875 den Beschluss, den zum Militärdienst einberufenen Rekruten auf ihr Nachsuchen jeweils 3 fl Reiseunterstützung zu gewähren, was auch in den Folgejahren stets geschah und ggfls. auf die einberufenen Reservisten und Landwehrmänner ausgedehnt und auf 5 Mark festgesetzt wurde.
Was Friedrich Feyerabend im Fortgang seiner Lebensschilderung über seine eigene Militärzeit berichtet, dürfte wohl repäsentativ für das Erleben und Empfinden der Mehrzahl der in den Jahrzehnten nach dem Deutsch-Französischen Krieg ihre Militärdienstzeit Ableistenden gewesen sein und soll deshalb hier ungekürzt wiedergegeben werden:
„So kam nun meine Militärdienstpflicht heran. Zur Infanterie ausgemustert, gelangte der mit Argusaugen betrachtete ‚Gestellungsbefehl’ in meinen Besitz. Im November 1891 in Erbach im Odenwald zur Gestellung stand vom frühen Morgen schon ein langer Eisenbahnzug zur Aufnahme der Heldensöhne bereit. Mit Handkoffern, Säckchen, Reisetaschen, Pappdeckelschachteln, Rucksäcken und auch viele mit nichts stand eine Korona am Bahnhof mit ebenso wechselhafter Kleidung von der Zipfelkappe bis zum Koks (= steifer Hut oder auch sog. Melone) und vom gestrickten Wollwams bis zum Spitzfrack und wartete auf das Kommende. Ein Feldwebel mit strenger Amtsmiene trat unter den Haufen, rief jeden mit Namen auf, ein weiterer ordnete die Verlesenen unter scharfer Abtrennung; als dieses geschehen war, nahm die Miene und Haltung des Feldwebels eine noch strengere Haltung an und mit großer Lautstärke verkündete er, dass wir von dem Augenblick an unter Hoheit der Militärverwaltung stehen, allen Anordnungen unbedingt folgen müssten und die Verfehlungen nach den Militärgesetzen bestraft werden. Nach den einzelnen Wagen abgezählt, ging die Einladung vor sich, schon ging der Zug ab. Es ertönten nun die vorsorglich gelernten Soldatenlieder; einige stellten sich in Positur, dass sie sich nicht alles gefallen lassen wollten; es wurde das ganze Korps immer selbstbewusster, bis der Zug bei Mainz die Rheinbrücke und den Tunnel passierte und mit einem Schlag eine Totenstille eintrat! Auf einem Gleise abseits vom Hauptbahnhof hielt der Zug. Kommando: ‚Alles aussteigen!’ Der Feldwebel machte einem Leutnant Meldung. ‚Vier und vier ordnen!’ Der Leutnant rief: ‚Ich mache euch aufmerksam, dass ihr unter den Militärgesetzen steht!’ Im Überblicken des Korps sagte er, dass man mit so einer Schweineblase nicht durch die Stadt marschieren könne. ‚Es geht durchs Gartenfeld, ihr habt mir schleunigst nachzufolgen!’ Er ging langen Schrittes voraus, so dass wir gewaltig ausgreifen mussten, um nachzukommen. Zum Kasernentor einmarschiert, schwand auch der letzte Rest von Heroismus. In Kompanien eingeteilt und dort wieder in Stuben, wobei keiner ohne Erlaubnis sein Zimmer verlassen durfte, folgte nun die große Schwemme (Dusche) und wurde die Einkleidung vorgenommen. ‚So, nun könnt ihr Kleider, Herr und Vornamen nach Hause schicken, von heute ab seid ihr ‚Rekrut’‘.- Das schon so außerordentlich verschiedenartige Niveau von Menschen und deren Herkunft aus verschiedenartigen Gegenden (Odenwald, Vogelsberg, Rheinland, Neckartal) und vereinzelt aus allen Gegenden Deutschlands gaben nicht nur äußerlich, sondern auch sprachlich, geistig eine in allen Lebensarten zusammengewürfelte Gesellschaft ab, aus denen nun nicht nur dienstlich, sondern besonders außerdienstlich die so zu allen Zeiten viel gerühmte und auch in der Tat bestehende ‚Kameradschaft’ sich bilden und zusammenfinden sollte. Die Schwierigkeit zum Gelingen, dieses lag ja schon in der charakteristischen Eigenart der Gebiete und ganz besonders in dem Sprachgemisch. Wenn man aber an Wunder glauben darf, so ist das sich nun gestaltende solche eines der schönsten und beachtenswertesten. Hier haben sich Menschen zusammengefunden, Kameradschaft und Freundschaft geschlossen, die ohne jedes beeinflussende Vorurteil (‚Woher bist du, wer bist du, was bist du?’) sich gefunden hat und von Lebensdauer gekrönt war.- Es mag die Gemeinschaft der Pflichten oder das allgemeine Ergehen im Dienst dazu beigetragen haben; viel wertvoller aber war das gegenseitige Sichaufrichten, Sichbehilflichsein, einer dem andern, dem es schwer fiel, zu helfen und nicht zuletzt trotz schwerer Stunden den Humor aufzubringen, um diesem Soldatenleben in Anbetracht der Jugendjahre eine lebensfrohe Gestalt zu verleihen, deren wirkliche Schönheit und wirklicher Wert man nur in den späteren Jahren, wo das Schicksal härter zugreift, in vollem erkennen lernte.- Wenn man diese eigenartige soldatische Erziehungsmethode früherer Zeit objektiv betrachtet, so legte sich durch die Disziplin, Ordnung, Pünktlichkeit, Selbsthilfe und unbegrenzte Bescheidenheit und Solidarität – im wildesten Lebensalter – in den Menschen ein gewisses Fundament, worauf nicht selten später ein erfolgreiches Leben sich aufbaute und das eine gewisse Sicherheit in allen Lebenslagen und Handeln hinterließ. Es würde viel zu weit führen und ich würde mich auch von meinem ursprünglichen Grundprinzip viel zu weit entfernen, wollte ich mich in die so vielen sich ergebenden humoristischen Gegebenheiten, Tollpatschigkeiten, Anekdoten, Widersprüche, gefahrvollen Schlingen in ebenso wunderbaren Auflösungen einlassen, deshalb schließe ich dieses Thema mit einem kurzen Geständnis ab: Man war nach der Militärzeit ein anderer, als man vorher gewesen war!“[8]
Was dinglich den meisten der „Gedienten“ von ihrer Militärzeit blieb, das war der zur Entlassung meist erworbene mit einem repräsentativen Zinndeckel versehene und aufwändig bunt bemalte und beschriftete Reservisten-Krug. Das in der
- Abb. F 3a: Der Reservisten-Krug des Ernst Christian Klenk aus Wimpfen von 1903[9]
gezeigte Exemplar enthält die folgenden (auf den jeweiligen Reservisten abgestimmten) Aufschriften:
– Um den oberen Rand: „Es lebe hoch das Regiment, das sich Prinz Carl in Ehren nennt.“
– Auf dem Mittelband auf der Gegenseite des Henkels in die Malerei eingesetzt:
-oben: „Reserv. Klenk“;
-im Mittelspiegel desselben: „118“ (= die Regiments-Nummer);
-darunter: „Andenken an meine Dienstzeit bei der 3. Compagnie“;
-über dem Fuß: „4. Großh. Hess. Inft.Regt. Prinz Carl Nr. 118. Worms. 1901 – 03“;
-links und rechts neben dem Henkel alphabetisch gereiht (hier nicht sichtbar): die Nachnamen von 2 x 32 Kameraden.
Ein weiterer um ein Jahrzehnt jüngerer und von seinem obligatorischen Zinndeckel her noch prächtigerer solcher, der vom Vater meines Jahrgangskameraden OTTO MAISENHÄLDER überkommen ist, sei gezeigt in der
– Links und rechts unter dem Bild, das oben den Lauf des Rheins und darüber die Silhouette von Worms u. a. mit dem Dom und den Kasernenbauten, darunter links Infanteristen im Biwak, rechts im Gefecht zeigt, je ein Reimspruch (hier nicht sichtbar):
-„Hoch die tapfre Infantrie, Auf dem Posten spät und früh“ bzw.
-„In des Gefechtes Mitte stehn wir wie Mauern fest. Für Deutschlands Ruhm und Ehrn, für Vaterland und Fürst“.
- Abb. F 3b: Der Reservisten-Krug des 1891 geborenen Otto Maisenhälder (dort geschrieben „Meisenhälder), dessen Bemalung und Beschriftung auf den Zeitraum seines Militärdienstes von 1912 – 1914 im damaligen sog. Reichsland Elsass-Lothringen bezogen ist.
Mit Hilfe einer Kurzbeschreibung des Vorgenannten in Verbindung mit dem, was auf dem Foto sichtbar wird, lässt sich dieser wie folgt beschreiben:
– Schon der Zinndeckel ist dadurch, dass er vielfach getreppt und mehrfach mit Ornament-Gravuren überzogen sowie von einer Infanteristen-Figur mit Gewehr bei Fuß bekrönt ist und dessen am Henkel befestigter Drücker einen groß aufragenden bayrischen Wappenlöwen trägt, ein echter Hingucker. Nach dem Abschrauben der Kriegerfigur wird im nun erscheinenden geschliffenen Glasprisma eine sechsflächige Pyramide sichtbar und darunter ein an den ruhmvollen 1870/71er-Krieg erinnerndes Bild „Denkmal des Garde-Corps bei St. Privat“.
– Den Krugrand begleitet die Umschrift „4. Inf.Rgt. ‚König Wilhelm von Württemberg’ 11. Komp. Metz 1912-14“. Die Laubkränze der beiden umlaufenden Ringwulste sind mit weiß-blauer Bänderung und damit den Landesfarben des Königreiches Bayern geschmückt.
– Aus der vielfältigen Malerei des Krugschaftes mit oben in der Himmelszone mehreren Partien von Reimzeilen sticht in Blau-Weiß neben den mit „In Treue fest“ umschriebenen Büsten von König Ludwig III. von Bayern, König Wilhelm II. von Württemberg und Kaiser Wilhelm II. die Bayernfahne hervor, darüber ist die „Garnison Metz“ zu erkennen, was nur eine von fünf umlaufenden Bildwiedergaben darstellt, darunter militärischen Übungsszenen mit einer solchen beim Ort des Schlachtengeschehens des Krieges von 1870/7l Gravelotte (mit Denkmal). Was die Reimtexte anbelangt, so „besingt“ der oben mittig bis links erkennbare solche, ähnlich wie beim erstgezeigten Krug, das (4.) Regiment, in dem der Krugbesitzer gedient hat.
– Von der Aufschrift des Fußes ist nur „Meisenhälder“ entzifferbar.
Dass OTTO MAISENHÄLDER SENIOR nicht in einer der hessischen Garnisonen und in einem der hessischen Regimenter, sondern in einem württembergischen solchen, das in der im damaligen sog. Reichsland Elsass-Lothringen gelegenen Stadt Metz stationiert gewesen ist, seinen Militärdienst ableistete, erklärt sein Sohn Otto damit, dass dieser damals seinen Beruf als Bäcker im Württembergischen ausgeübt und somit dort „ausgehoben“ worden ist. Und die Aubringung des Bayernlöwen wie die Einbringung der bayerischen Farben und Fahne soll darauf zurückgehen, dass der Vater des Krugbesitzers aus denselben Gründen im bayrischen Heer „gedient“ hatte.
Wie aus einem Zeitungsbericht mit der Überschrift „Kleine Kunstwerke der Kaiserzeit“ [10] zu erfahren ist, tauchten immer im Frühjahr, etwa ein halbes Jahr vor dem Ende der Militärzeit, geschäftstüchtige Händler in den Kasernen auf, um an Hand ihrer Modelle und Bildvorlagen den der Entlassung entgegengehenden Militärdienstleistenden einen auf ihre Person, Garnison, militärische Einheit sowie Waffengattung zugeschnittenen Erinnerungskrug zu offerieren. Somit stellte jeder sog. Reservistenkrug ein Unikat und somit ein willkommenes lebensbegleitendes Souvenier an die in der Regel als unausweichlich empfundenen Jahre des Pflichtdienstes an der Schwelle des Erwachsenwerdens für Kaiser, Volk und Vaterland dar.
Wie die nun folgende Weiterführung der Geschichte des Kriegervereins zeigt, war nach zwei Jahrzehnten des Bestehens die Zahl der Vereinsmitglieder durch den Beitritt solcher „Gedienter“ wie auch älterer „Nichtgedienter“ auf das Vierfache angestiegen. Im Februar 1882 wird gemeldet, dass sich der Kriegerverein seit einem Jahr durch den Beitritt von 24 + 3 = 27 Mitglieder „sehr gehoben“ habe. 1894 beträgt die Mitgliederzahl 132, 1901 schließlich 156. Über die Jahre 1885 – 1898 ist in der Festschrift das Folgende gesagt, wobei die erstgenannte Aktion sich auf den 22. März 1885 bezieht:
„Als eine Hauptunternehmung des 12 Jahre bestehenden Vereins sei die Feier des Geburtsfestes Seiner Majestät des Kaisers genannt (gemeinsamer Kirchgang in die Stadtkirche, Zug mit Musik durch die Stadt, Parade am Bahnhof, Frühschoppen in der Traube und abends Bankett im Mathildenbad). Auch Singstunden wurden in dieser Zeit abgehalten. Dabei herrschte gute Disziplin im Verein; ein Ausschluß wegen ungebührlicher Aeßerungen und Schimpfens in verschiedenen Wirtschaften sowie ein Verweis vor versammelter Mannschaft wegen ungebührlichen Verhaltens tun dies dar. Vom Jahr 1890 sei die Ausarbeitung neuer Statuten, sowie die Feier des Geburtstages Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs erwähnt, vom Jahr 1891 die Vornahme einer Christbaumverlosung. Einem 1892 sich selbst entleibenden Mitglied wurde das militärische Ehrenbegräbnis versagt. Eine mehr und mehr sich verstärkende Rolle spielen von diesem Jahre an die Hassiaberichte (Anmerkung: „Hassia“ hieß der Zentralverein der Kriegervereine Hessens, der 1889 in Wimpfen seinen Bezirkstag abgehalten und aus diesem Anlass seinem hohen Protektor, den Großherzog Ludwig IV. von Hessen, ein Danktelegramm geschickt hat). 1894 erfolgte der Anschluß an die Sterbekasse des deutschen Kriegerbundes; ferner wurden Vereinsabzeichen angeschafft und unter heiliger Verpflichtung an 178 Mitglieder eingehändigt. 1895 wurde an die Errichtung eines Kriegerdenkmals gedacht und mit anderen Vereinen eine gemeinschaftliche Sedanfeier abgehalten; 1896 das 25jähr. Bestehen des Deutschen Reiches festlich begangen, auch fand eine Feier 25jähr. Friedens statt. Vom 28. Mai 1897 ist festlicher Empfang des Großherzogs mit Gemahlin verzeichnet, ferner am 18. August, wie fast alljährlich, der schöne Verlauf der Gravelottefeier ‚bei schönster Harmonie’. Ein Sonder-Protokollbuch beanspruchte das Jahr 1898, indem anläßlich des 25jähr. Stiftungsfestes nicht nur eine neue Fahne eingeweiht wurde, sondern es wurden auch die beiden Gedenktafeln für die 70 Feldzugsteilnehmer von 1870/71 am Rathaus angebracht, voranstehend die Gefallenen und die während des Krieges und kurz nach dessen Beendigung an den Wunden oder Strapazen Gestorbenen. Ausgeführt wurden die Tafeln durch den Steinmetzmeister Hofmann für je 35 Mark; die Gemeinde leistete einen Beitrag von 400 Mark. Das Fest, an dem sich 5 auswärtige Vereine mit 1.200 Mitgliedern beteiligten (Veteranenverein II Heilbronn, Kriegervereine Helmhof, Hirschhorn, Neckarsteinach und Neuenstadt), fand statt am 19. u. 20. August. Als Kameraden, die sich um das Zustandekommen und gute Gelingen besonders verdient gemacht haben, verzeichnet Präsident Trautmann: Lenz, Schmalzhaf, Bär, Kahn, Stierle, Fackler, Kirner.“[11]
- Abb. F 4a: Das in der Wimpfener Zeitung angekündigte Programm zur Einweihung der beiden Krieger-Gedenktafeln mit Fahnenweihe und Stiftungsfest des Kriegervereins Wimpfen des Jahres 1898:[12]
lässt die auf eine breite Erfassung der Einwohnerschaft mittels eines Festzuges und zahlreicher von früh bis spät gehender Veranstaltungen der verschiedensten Art gerichtete Gestaltung erkennen. Die beiden Gedenktafeln sind bereits unter A.1 beschrieben und in Abb. A 8a und A 8b gezeigt. Hier sei noch ergänzend beigefügt die
- Abb. F 4b: Das den Mitgliedern des Kriegervereins Wimpfen ausgehändigte Vereinsabzeichen.[13]
Dieses bestand aus einer oben mit der Herrscherkrone und mittig mit einem kleinen eisernen Kreuz besetzten Schleife sowie einem darunter mit einem Ring befestigten und die Inschrift „K.V. (= Kriegerverein) Wimpfen 1873“ tragenden großen Metallkreuz. Wie in
- Abb. F 4c: Abzeichen der Kriegerkameradschaft Hassia (Landesverband Hessen)
zu sehen, ist dieses auch zu Jubiläen der 25- oder gar 40-jährigen Mitgliedschaft verliehen und stolz von den Veteranen des Krieges von 1870/71 oder gar des 1866-Krieges zusammen mit anderen verliehenen Kriegeremblemen wie z. B. der Schießauszeichnung der Kriegerkameradschaft Hassia, Jubiläumsmedaillen, Mützenkokarden am Rock oder an der Kopfbedeckung getragen worden.
Bereits 1888 und 1889 war ins Auge gefasst worden, mit allen Mitteln, so durch Veranstaltungen, Sammlungen, Verlosungen etc., einen Fonds für den Bau eines gesonderten Kriegerdenkmals zu beschaffen. Für diese großzügigere Lösung kamen jedoch die notwendigen Mittel nicht zusammen. Somit entschied man sich für die im oben zitierten Text genannten beiden schlichten Tafeln und deren Anbringung links und rechts der Rathauspforte. Über das Jahr 1895 ist noch ergänzend zu sagen, dass Mitte August 40 Mann des Vereins nach Darmstadt zu einem Treffen von 504 Kriegervereinen des Landes gefahren sind und an die 55 noch lebenden Veteranen des 1870/71er Krieges eine Ehrengabe von zusammen 220 Mark gereicht worden ist. An am 21. August desselben Jahres wurde auch eine Erinnerungsfeier des Gedenkens der vor 25 Jahren stattgefundenen Schlachten bei Gravelotte und Sedan gehalten. Im 25. Jahr seines Bestehens 1898 hat der Verein noch 140 Mitglieder. Den Geburtstag von Kaiser Wilhelm II. im ausgehenden Januar 1901 feierte der Kriegerverein in der Weise, dass von 70 Mitwirkenden 27 sog. Lebendige Bilder aus dem 1870/71er Krieg vorgeführt wurden, wobei die neu errichtete geräumige Turnhalle den Ansturm der Besucher nicht zu fassen vermochte. Anfang Juni 1907 findet in Wimpfen eine Versammlung der Veteranen der Umgegend statt, an der immerhin noch 106 Veteranen aus Hessen, Baden und Württemberg teilnehmen. Hierzu sei gezeigt die
- Abb. F 4d: Fotografie vom auf der ersten der beiden Namenstafeln des 1870/71er Krieges zu findenden Veteranen Bäcker Friedrich Fell;
- Abb. F 4e: Reservisten-Stöckchen des Wimpfener Kaufmannes Haug.
Der Letztgenannte hatte sein Ladengeschäft an der Unteren Hauptstraße im dritten Gebäude oberhalb des Unteren Tores Nr. (ab 1895) 226 und war unter den Honoratioren als stolzer Besitzer und Benutzer natürlich nur an besonderen Gedenktagen eines solchen mit Windungsschnur, Quasten und Schlaufenband (bei ihm in Gelb-Rot, den Farben des Großherzogtums Baden) mit den Aufdrucken als Siegeszeichen „Es ist erreicht“ und „Es war nicht leicht“ geschmückten sowie mit Knaufgriff versehenen Trophäe keine besondere Ausnahme. Man war als Veteran bis in die alten Tage hinein stolz, Anteil am Sieg über den „Erbfeind Frankreich“ zu haben und hatte in der Regel keinerlei Scheu, sich dementsprechend in Pose zu setzen und an den regen Aktivitäten des Kriegervereins teilzunehmen. Dazu gehörte auch, wie am Beispiel des altersgrauen Veteranen Bäcker Friedrich Fell zu sehen, die Zurschaustellung der als Soldat und späterer Veteran empfangenen Orden und Ehrenzeichen der oben beschriebenen und gezeigten Art auf dem Rock der an den begangenen vaterländischen Gedenktagen angelegten obligatorischen Uniformbekleidung.
2. Die im Jahr 1876 vom wiedergegründeten Turnverein betriebene Körperertüchtigung und Pflege der Kameradschaft hebt erstrangig auf die Förderung Wehrhaftigkeit ab.
Im Jahr 1876, also drei Jahre nach Gründung des Kriegervereins, erfolgte die Gründung eines Turnvereins. Den Initiatoren wahrscheinlich infolge der inzwischen vergangenen etwa drei Jahrzehnte gar nicht bekannt, stellte diese eine Wiedergründung dar. Denn (siehe Band 2, S, 165 – 167) in der Zeit von 1845/46 – 1848/49 hatte ein solcher bereits existiert, war aber – wie überall – im Zuge der gescheiterten Revolution dem behördlichen Verbot zum Opfer gefallen. Geschmückt mit dem althergebrachten Turner-Emblem, nämlich den von einem Eichenlaub-Kranz umschlungenen vierfachen F (= Turner-Devise: Frisch-Fromm-Fröhlich-Frei), setzen „Mehrere Turnfreunde“ den folgenden Aufruf in die Zeitung: „Alle Diejenigen, die sich für die Gründung eines Turn=Vereins interessiren, werden hierdurch auf Donnerstag, den 11. Mai Abends 8 Uhr zu einer Besprechung im Gasthofe zum R i t t e r höflichst eingeladen.“ Daraufhin kann die Zeitung unter dem 16. Mai 1876 den folgenden Bericht des Vollzugs der Gründung geben: „Auf Anregung mehrerer hiesiger Turnfreunde ward in der vergangenen Woche eine Zusammenkunft für Freunde des Turnens ausgeschrieben, welche sich eines ziemlich starken Besuches erfreute. Diese Versammlung hatte den Zweck, auf Gründung eines Turnvereins hinzuwirken, was denn auch insoweit gelang, daß sich sämmtliche Anwesenden zur Mitgliedschaft bereit erklärten. Vier dieser (zunächst nur rund 10) Mitglieder wurden in den (zunächst provisorischen) Vorstand gewählt und letzterer zur Entwerfung des nöthigen Statuts beauftragt. Der Verein, welcher bereits eine erfreuliche Zahl an aktiven und passiven Mitgliedern zählt, hält wöchentlich 2 Mal Turnen ab; wir wünschen demselben ein recht kräftiges Gedeihen, und wird es übrigens an Freunden der Sache zu weiterer Betheiligung nicht fehlen.“
Aus der direkten Sicht der beteiligten Gründer, veröffentlicht in einem Aufsatz „Aus der Geschichte des Turnvereins Wimpfen“ des Jahres 1914 anlässlich des in Wimpfen veranstalteten 25. Gauturnfestes (Unterer Neckargau. Deutsche Turnerschaft. XI Kreis Schwaben)[14], stellt sich der Gründungsvorgang so dar: „Es war im Anfang des Wonnemonats 1876. Fünf Herren, noch in der ganzen Vollkraft ihrer Jugend, kamen im Flusse ihrer Unterhaltung auf den glücklichen Gedanken, die Anregung zu versuchen zur Gründung eines Turnvereins in Wimpfen. Wohl barg dieser Wunsch keineswegs etwas Absonderliches. Denn durch das neue Schulgesetz von 1874 war das Turnen in allen Schulen Hessens obligatorisch verlangt. Immerhin mußte in der Bevölkerung mit Gleichgiltigkeit, ja vielleicht Widerstand gerechnet werden. Aber die Ausführung der Gründung des neuen Vereins lag in guten entschlossenen Händen. Mit einer ihm damals schon eigenen Energie hatte sich ein Herr in dieses Gebiet geworfen: Es ist der jetzige Leiter des gesamten hessischen Schulturnens, Herr Schulrat E. Schmuck=Darmstadt, dessen Name ja auch innerhalb der deutschen Turnerschaft einen sehr guten Klang hat und der seit 1901 Ehrenmitglied des Wimpfener Vereins ist.“ Der vorgenannte aus Worms stammende Hauptgründer EMANUEL SCHMUCK war vom 1. April 1875 bis 10. April 1879 Lehrer an der jungen Wimpfener Städtischen Realschule bzw. Höheren Bürgerschule, wechselte dann an das Realgymnasium und die Realschule Gießen, danach an die Realschule Bingen am Rhein und wurde schließlich Schulrat in Darmstadt.[15]
Bald danach meldet sich der Verein, wiederum in der Zeitung werbend und informierend, durch die folgende Anzeige zu Wort:[16]
Unter dem „Turnplatz“ ist der vom Kreuzgang umschlossene sog. Klostergarten oder Klosterhof des ehemaligen Dominikanerklosters gemeint, das seit Anfang der 1840er Jahre die Volks- und die Städtische Bürger- bzw. spätere Realschule sowie einige Lehrerwohnungen beherbergte. Die zwei wöchentlichen Turnabende fanden dienstags und freitags von 7 – 8 Uhr statt. Bei den unterzeichneten drei Mitgliedern des provisorischen Vorstandes handelte es sich um:
– den Vorsitzenden: DR. MED. WILHELM OLDENBURG aus Schwerin; dieser hatte sich in Wimpfen im Frühjahr 1876, demnach kurz vor der Vereinsgründung, als praktischer Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer (spezialisiert für Frauen- und Kinderkrankheiten) niedergelassen; die Übernahme des Vereinsvorsitzes durch diesen lässt erkennen, dass die Arbeit des Turnvereins vor allem auch der Gesundheitsfürsorge und Körperertüchtigung dienen sollte;
– den Turnwart: EMANUEL SCHMUCK, Lehrer an der Städtischen Höheren Bürgerschule;
– den Schriftführer: LOUIS KAHN, jüdischer Kaufmann.
„Ende Mai desselben Jahres fand die erste Hauptversammlung statt, die 21 weitere Mitglieder brachte, sich ihre Satzungen schuf und als endgültigen ersten Vorstand bestimmte: Dr. Oldenburg, Vorsitzender, E. Schmuck, Turnwart, K. Schwenzer, Schriftwart.- Mit vollem Eifer warfen sich diese Herren ins Werk. Bereits der Pfingstmontag brachte die erste Turnfahrt mit dem Ziel Löwenstein, und einige Wochen später folgte eine Nachenpartie nach Gundelsheim. Auch an der Sedanfeier beteiligte sich der Verein und veranstaltete noch im gleichen Jahre ein Herbstfest auf den Wiesen beim Kirschenbänkchen mit Musik, Feuerwerk und anschließendem Ball.“[17]
Zwar führt im Winter 1876 LEHRER STREIN bei der Gemeinde Beschwerde wegen nächtlicher Ruhestörung, verursacht durch die Benützung eines unter seiner Dienstwohnung befindlichen Schulsaales zum Turnen. Doch kann der Verein schon im nächsten Frühjahr am 4. März 1877 ein Schauturnen im sog. Klostersaal (dortiger Zeichen- und Industrieschul-Saal der Schulen) abhalten, wo bei rauer Witterung statt im Klostergarten auch die wöchentlichen beiden Übungsabende stattfinden. Die gezeigten Leistungen lösen hohe Befriedigung aus und großes Lob für das vom Verein in kurzer Zeit Geleistete. „Es dürfte wohl eines jeden für die edle Turnerei sich interessierenden Mannes Pflicht sein“, so wird gefolgert, „dem Verein als Mitglied beizutreten und den geringen monatlichen Betrag zu leisten, und an Euch, Ihr gütigen Väter der Stadt, dürfte es sein, dem jungen Verein die Geräte aus dem Stadtsäckel zu stellen. Denn Eure Söhne sind es, die da ausgebildet werden; ein tüchtiger Turner wird später ein gewandter Feuerwehrhauptmann und ein guter Soldat; er fürchtet sich nicht vor dem Exercieren, die Übungen sind ihm vertraut, er braucht nicht zuvor gedrillt zu werden und mit Lust und Liebe trägt er unsres Kaisers Rock. Gut Heil!“
Demnach verfolgt der Turnverein auch eine Erziehung der Jugend in vormilitärischen Sinne. Aus der Meldung der Zeitung vom ausgehenden März 1877 geht hervor, dass der Verein anfangs nur 3 passive und 7 aktive Mitglieder gehabt habe, jetzt aber 17 aktive und 28 passive solche besitze. Man sei jetzt in der Lage, sich der Kritik fremder Turner zu stellen. Anfang Juni 1877 feiert der Turnverein sein einjähriges Bestehen (sog. Stiftungsfest) mit einem Festzug durch die Stadt und anschließendem Schauturnen und einem Ball im „Mathildenbad“, wobei auch ca. 20 Gäste aus Heidelberg sowie auch solche aus Heilbronn und Sinsheim anwesend sind und „Kaiserwetter“, d. h. Sonnenschein und blauer Himmel, herrscht. Über die Turnübungen hinaus wird ein erster Ausflug nach Heuchlingen/Jagst unternommen. Als Vorsitzender erscheint jetzt der Gründungsinitiator EMANUEL SCHMUCK. „Noch sei erwähnt, wie die Mittel beschafft wurden zum Anschaffen der allernotwendigsten Geräte. Der Plan ward gut ausgedacht und noch besser ausgeführt: Die Turnratsmitglieder stellten sich die Aufgabe, einige opferwillige Herren zu finden, und siehe, in kurzer Zeit waren 15 Anteilscheine zu je 10 Mk. abgesetzt und die ganze Tilgung schon Ende 1878 geregelt.- Einem willigen Fleiß war zum Turnen die Möglichkeit gegeben, und mit überaus großem Eifer soll geturnt worden sein. Denn wie die Aufzeichnungen des Vereins berichten, wurde sogar Beschwerde geführt gegen das allzueifrige Turnen. Vom damaligen Schulvorstand lief nämlich unterm 7. August 1877 ein Schriftstück ein, das u. a. den Vorwurf enthielt, durch das Turnen litte das Klostergebäude Schaden, und die nur für den Winter 1876/77 erteilte Erlaubnis, den Industriesaal zum Üben benutzen zu dürfen, werde wieder zurückgenommen. Darob im Turnverein selbstverständlich große Erregung. Denn das schnitt die Lebensfrage an. Aber man beschloß, sich zu wehren. Dem nachmaligen hochverdienten Vereinsvorsitzenden Kleyer gelang es durch eine Gegenerklärung vollständig, die Vorwürfe zu entkräften, die Turnerlaubnis zu behalten, überhaupt die bedrohte Lebensdauer der jungen Vereinigung zu festigen. So war der Turnverein Wimpfen dank der Ausdauer und Umsicht seiner Leitung auf kräftige Füße gestellt. Fleißig turnte die Jugend und auch das Alter als Männerriege in einem sehr mangelhaften Raume. Es war der düstere langgestreckte Teil des alten Kreuzganges im Westflügel des Klosters, in dem selbst die wenigen Geräte das Turnen noch hinderten.“[18]
Ende August 1877 bereits ändert der Verein seine Statuten. Der aus drei Mitgliedern bestehende seitherige Vorstand wird – aus welchen Gründen auch immer – auf fünf ausgeweitet und fast ganz ausgewechselt. Neuer Vorsitzender wird der Fabrikant und Kaufmann OSKAR LINK, Turnwart der Mehlhändler PHILIPP SCHMITT, Kassier der Seifensieder CARL SCHWENZER und Beisitzer der bei der Saline beschäftigte Buchhalter WILHELM KLEYER sowie der Kaufmann HEINRICH HEUERLING.
Anlässlich des 100. Geburtstages von FRIEDRICH LUDWIG JAHN am 11. August 1878, des „Vaters der Turnkunst“, hält der Verein eine Jahn-Feier ab, bei der in der Ansprache eines Turnrat-Mitglieds in höchstem Maße nationale Töne angeschlagen werden und Kaiser-Verherrlichung in der Art betrieben wird, wie dies auch im Kriegerverein geschah: „Geehrte Festgenossen, die deutsche Einheit, für welche Jahre gestritten und gelitten, wir haben sie erreicht. Und wem verdanken wir sie? Zunächst unserem erhabenen Kaiser, welcher, als ihm unser Erbfeind, der Franzose, freventlich den Krieg aufdrang, die deutschen Stämme zu Sieg und Ruhm führte und durch Annahme der deutschen Kaiserkrone das deutsche Reich begründete und seither mit fester Hand schützte.“ 1879 wird von der Stadt das Turnlokal im Klostergebäude hergerichtet und im Hochsommer unternimmt der Verein auch Wanderungen, Bootsfahrten auf dem Neckar und Ähnliches sowie am Sonntag, 27. Juli, nachmittags um 3 Uhr, ein Schau- und Preisturnen auf dem Turnplatz, zu dem jedermann eingeladen ist; abends findet im Mathildenbad eine Zusammenkunft mit Tanzunterhaltung und Illumination der Terrasse bei freiem Eintritt für die Mitglieder und 50 Pf. à Person für Nichtmitgleder statt. Zu Beginn der 1890er Jahre ist vom Turnverein, der seine Generalversammlungen im Wacker’schen Saal abhält, zu erfahren, dass die Zahl der aktiven Turner zurückgegangen sei.
„Jahre kamen und gingen“, so ist in dem schon mehrfach zitierten Aufsatz über die Geschichte des Vereins von 1914 resumierend berichtet, „mit ihnen die Turner und auch die Vereinsleitung wenigstens teilweise. 22 Jahre lang war ‚Vater Kleyer’ Vorsitzender, ein der Turnsache treuester Freund, dem der ganze Verein sehr viel zu danken hat. Ehre dem Namen Kleyer! – Alljährlich wurden besonders in der ersten Zeit des Bestehens Schauturnen abgehalten. Auf Turngängen besuchte man im Laufe der Jahre die ganze Nachbarschaft, besonders gelegentlich der Feste von Brudervereinen. Ausflüge und Turnfahrten auf weitere Entfernungen ermöglichten ein Bekanntwerden mit anderen Gegenden und anderen Bewohnern. Auf Gau- und Kreisfesten wurden Preise geholt, auch verschiedende deutsche Turnfeste beschickt (Frankfurt 1880, München 1889, Frankfurt 1908, Leipzig 1913). Neue Anregungen und neuen Eifer brachten die Teilnehmer stets mit. Auch sonst wurde turnerischer Geist gepflegt. … So hatte sich der Turnverein in allen Kreisen Wimpfens Anhänger und Freunde geworben. Viele derselben unterstützten die Bestrebungen des rührigen Vereins durch jährliche Beiträge und bildeten so die passiven Mitglieder. Besonders ihnen zuliebe wurden zuweilen gesellige Unterhaltungen geschaffen, die stets zahlreich und gern besucht waren. Bei all diesen Veranstaltungen fanden sich stets eifrige und kundige Mitglieder, die freudig ihr Können in den Dienst des Vereins stellten. Um die Abwechslung zu vermehren, wurde eine Sängerriege gebildet, die zuweilen auch bei den allgemeinen vaterländischen Feiern unter Erfolg mitwirkte.- Sehr förderlich für die Vereinskasse war eine Reihe von Vorträgen, die 1890/91 auf Veranlassung des damaligen Direktors der Realschule, des jetzigen Herrn Geh. Schulrats Münch=Darmstadt, von verschiedenen hiesigen und auswärtigen Herrn gehalten wurden. Den Reinertrag erhielt nämlich der Turnverein als Grundstock einer zu erbauenden Turnhalle.- Schon 1884 übernahm der Verein ein Gauturnfest. 1897 erhielt er das zweite. Dieses mußte jedoch sehr unter einer Ungunst leiden. Wenige Zeit vorher hatte ein Hagelschlag die ganze Nachbarschaft schwer heimgesucht. So bestand für das Fest keine rechte Stimmung, und der Besuch war kaum mittelmäßig.“[19] Beim Gauturnfest in Lauffen im Sommer 1885 erhält der Zögling Chr. Belzner von Wimpfen den 8. Preis. Was dem Verein in den ersten 2 ½ Jahrzehnten seines Bestehens sehr fehlte und was immer wieder in den Berichten anklingt, das war außer genügendem Geld zur Anschaffung von Turngerätschaften vor allem eine geeignete geräumige Turnhalle.
3. Der zum Nationalfeiertag werdende Sedantag (2. September) wird alljährlich von den Vereinen unter breitester Erfassung der Einwohnerschaft festlich begangen, dazu insbesondere vom Kriegerverein der Tag der Schlacht bei Gravelotte (18. August).
Wie bei der Darstellung der Festlichkeiten des Kriegervereins bereits angeklungen, waren für diesen besonders der Tag der Schlacht bei Gravelotte (18. August) sowie der Schlacht bei Sedan (2. September) jährlich meist ein Tag des Gedenkens an die Gefallenen und im Blick auf die dort errungenen Siege aber auch des Feierns und Festens. Bezüglich des Sedantages gilt dieses auch für den Turnverein, die Feuerwehr und den Gesangverein Concordia, dazu für weite Teile der Einwohnerschaft von den Kindern bis hin zu den Alten. Denn dieser Tag übernahm die Funktion des bislang nicht existierenden deutschen nationalen Festtages, zumal Kaiser Wilhelm I. die Begehung des ihm von einem Gremium vorgeschlagenen Tages der Reichsgründung (18. Januar) insbesondere wegen dessen Zusammenfallens mit dem Tag der ersten preußischen Königskrönung verworfen hatte. Nachdem 1872 der westfälische Pastor Bodelschwingh den so eng mit der Gründung des deutschen Reiches verbundenen Tag der Kapitulation Napoleons III. vorgeschlagen hatte, schickte es sich, dass ab 1874 dieser und teilweise auch schon der Abend des Vortages im Kaiserreich feierlich-festlich begangen wurde. Was Wimpfen betrifft, so kann der vorliegende erste diesbezügliche Zeitungsbericht vom 3. September 1875 als charakteristisch für die Art und Weise der Begehung dieses Tages gelten:
„Wie überall in deutschen Landen wurde auch hier der Sedanstag festlich begangen. In aller Frühe mit Tagesreveille der trefflich geschulten Realschüler, Böllerschießen und Musik, Nachmittags mit Festzug der geschmückten Jugend durch die Stadt nach dem Tal, Gesängen und Spielen auf dem Festplatz, Abends mit Bankett im Gasthof zum Ritter. Das war im allgemeinen das Programm des Festes. … Beim Bankett im Ritter brachte Herr Bürgermeister Ernst ein Hoch auf Kaiser Wilhelm aus und Fabrikant Vörg hielt eine Rede voll des glühendsten Patriotismus. … Es war vor allem ein Fest für die Jugend. Dadurch wächst sie mit dem Volke auf und verwächst mit ihm, und der 2. September wird so stets ein Tag der Feier sein und es auch trotz alledem bleiben.“
Auf welche Weise die alljährliche Begehung des Sedantages damals auch in die Zeitungswerbung einfloss, zeigt das dort folgendermaßen angepriesene Angebot der Bonner Fahnenfabrik vom 30. Juli 1876:
„Sedan! Sedan! Sedan! Waschechte Fahnen, Ballons, Lampions, Fackeln, gefüllte Fetttöpfchen, Feuerwerkskörper, Kaiser, Kronprinz etc. in Lebensgröße.“ Alljährlich wurden in der Zeit des Sedantages auch Geldsammlungen für die Hinterbliebenender Opfer des 1870/71er-Krieges durchgeführt.
Dieses Grundmuster des ganztägigen Festes mit Einbeziehung der Schuljugend, Festzug, patriotischen Gesängen und Reden, Festessen, Hochrufen auf Kaiser und Reich etc. des Jahres 1875 zeigt sich auch im Programm des auf einen Sonntag gefallenen Sedantages des Jahres 1877, wo der Vorabend mit einbezogen wurde und die oben genannten vier Vereine bei einem Fackelzug und beim Zusammensein im am Beginn der „Biberacher Straße“ gelegenen „Finninger’schen Garten“ vereint tragend mitwirkten und das abschließende abendliche Festbankett vom Turnverein veranstaltet wurde. Der ausführliche Bericht der „Wimpfener Zeitung“ sei hier ungekürzt wiedergegeben:[20]
Über den Sedantag des Jahres 1880 liegt der folgende Zeitungsbericht vor: „Zur Feier des deutschen Nationalfestes versammelten sich gestern Abend sämmtliche Vereine unserer Stadt, welchen sich auch der Gesang-Verein von Wimpfen im Thal anschloß, auf dem Marktplatz. Nachdem hier der Gesang-Verein Concordia das Lied „Hurrah Germania“ vorgetragen und eine Ansprache über die Bedeutung des Tages gehalten war, welche mit einem Hoch auf unseren allverehrten Kaiser, in welches die Versammlung begeistert einstimmte, schloß, ordnete man sich zum Zug, welcher mit Lampions und Fackeln versehen unter Vorantritt der städtischen Musik durch die Hauptstraßen der Stadt nach der Wolpertschen Gartenwirtschaft ging.- Hier angekommen, entfaltete sich sofort ein reges Leben und Treiben. Reden, von welchen wir ganz besonders die des Lehrers Trautmann hervorheben müssen, wechselten mit Vorträgen der beiden Gesang-Vereine, sowie der städtischen Musik ab und gewiß verließ jeder Theilnehmer befriedigt (d. h. den Bierstoff ausgenommen, der viel zu wünschen übrig ließ) das Local, in dem Bewußtsein, nicht allein einen frohen genußreichen, sondern auch der würdigen Feier unseres Nationalfestes entsprechenden Abend verlebt zu haben.“[21]
Über die Titel der vom Gesangverein vorgetragenen bzw. von den Festteilnehmern angestimmten „patriotischen Gesänge“ können wir nur spekulieren. Zu singen üblich war insbesondere, damals fast den Status der Nationalhymne erreichend, „Die Wacht am Rhein“:
Als im Jahr 1882 der Sedantag mit Beflaggung des Rathauses und mit einem Unterhaltungsabend des Turnvereines gefeiert wurde, ließ die Stadtmusik die „Wacht am Rhein“ vom Blauen Turm herab erschallen. Der Inhalt dieses 1840 von MAX SCHNECKENBURGER gedichteten und 1854 von CARL WILHELM vertonten Liedes hatte nach der Reichsgründung im 1871 – 1873 von J. SCHILLING oberhalb Rüdesheim am Rhein geschaffenen Niederwalddenkmal seine Verkörperung erfahren, wo sich über dem 25 m hohen mit Reliefs zu Themen des Krieges von 1870/71 die über 10 Meter hohe Germania erhob. Als Mitte Mai 1886 der Gesangverein Concordia dorthin eine Ausflug plant, wird der Einwohnerschaft dieses zum Nationaldenkmal gewordene Ausflugsziel mit folgenden begeisterten Worten beschrieben:
„Endlich ist das Ziel erreicht und staunend steht jeder still, versunken in die Herrlichkeit dieser Meisterschöpfung; weiß doch ein jeder, daß er auf geheiligtem Boden steht, wo zweimal sein Kaiser gestanden bei der Grundsteinlegung und bei der feierlichen Enthüllung, wohin jährlich Tausende seiner deutschen Brüder wallen. Voll stolzer Gefühle betrachtet da ein jeder die herrliche Gestalt der Germania, die vom Throne sich erhebend, das Zeichen der wiedererrrungenen Einheit, die Kaiserkrone, in die Lüfte hebt, voll Beruhigung, aber auch vertrauend auf seine Kraft, die Gestalten des Krieges und des Friedens und jene Gruppe, wo der Vater Rhein der Mosel die Wacht an unserer Westgrenze übergibt.“
Doch gibt es 1882 in den Zeitungen Diskussionen über das Für und Wider der weiteren Abhaltung des Sedantages. Ein Wimpfener Einsender ist jedoch der Meinung, dass der 2. September ein Nationalfeiertag bleiben solle und es unwürdig sei, dessen Feier einschlafen zu lassen. Dieser sei auch geeignet und es sei auch Pflicht der am Einigungswerk arbeitenden Parteien, politischen Hader und Trennendes einen Tag zu vergessen zu lassen. Bewusstes Festhalten an der Vergangenheit biete auch Gewähr für die Zukunft. Was Wimpfen betrifft, so findet in der Tat 1884 keine Sedansfeier statt. Dafür bringt die Zeitung eine längere Betrachtung über die Bedeutung des Sedanfestes, die bei aller Lobpreisung des nach der erkämpften Einheit unter den Nationen erreichten Spitzenranges Töne der Versöhnlichkeit und Handreichung gegenüber dem besiegten Frankreich anschlägt und aus dessen Schlusszeilen hervorgeht, dass man es in diesem Jahr jedoch mit der vom Turme herab wiederum erklungenen „Wacht am Rhein“ bewenden ließ:
Im Folgejahr stoßen wir auf das folgende Anfang September in der Zeitung veröffentlichte Sedan-Gedicht:
Zur Feier des Tages wird jetzt sogar in der Höheren Töchterschule bei Anwesenheit der Eltern eine Ansprache über den Verlauf des Kriegs 1870/71 gehalten, die mit dem Choral „Nun danket alle Gott“ ausklingt und worüber in der Zeitung der Schluss gezogen wird, „wie zeitgemäß die Errichtung dieser Schule ist“. Als demgegenüber im Folgejahr 1886 es 20 Jahre her ist, dass der (auch für das Großherzogtum Hessen verloren gegangene) Krieg von 1866 stattgefunden hat, da schreibt die Zeitung bezeichnenderweise Folgendes: „Es wäre nichs verfehlter, als die Erinnerung an diesen deutschen Bruderkrieg zu feiern.“ 1890 kommt zum Flaggenschmuck und Böllerschießen des Sedantages ein Kinderfest. Für Wimpfener Verhältnisse „in schöner und großartiger Weise“ und „unter großer Beteiligung der gesamten Gemeinde“, wie es in der Chronik der Evangelischen Kirchengemeinde heißt. Und auch unter vollzähliger Beteiligung der Schule und Gemeinde von Hohenstadt, wurde das Sedanfest über den 1. und 2. September hinweg mit z. B. abschließendem Feuerwerk und bengalisch beleuchtetem Marktplatz im Jahr 1895 anlässlich dessen 25-jährigen Jubiläums gefeiert, obgleich inzwischen der Abbruch des Kulturkampfes und vor allem die Abberufung Bismarcks durch Kaiser Wilhelm II. sowie die Aufhebung der Sozialistengesetze u. a. m. in den bürgerlich-nationalen Kreisen allerlei Enttäuschungen hinsichtlich der Entwicklung des Kaiserreiches gebracht hatten (Einzelheiten dazu siehe an späterer Stelle). Nicht nur, dass die Bürgerliche und die Evangelische Gemeinde und die maßgeblichen Vereine engstens im Gleichklang kooperierten, sondern es wurde in ausgewogener Weise sowohl des militärischen Aspekts (Sieg und Opfer) als auch des reichspolitischen Aspekts (Erringung der Reichseinheit) gleichmächtig gedacht. Der ausgedehnte instruktive Zeitungsbericht verdient es, ebenfalls ungekürzt wiedergegeben zu werden:
Man spürt insbesondere aus dem nach der Rede von PFARRER RICHARD WEITBRECHT angestimmten Nationalhymne „Deutschland Deutschland über alles“, dass die Menschen sich inzwischen als Deutsche fühlten und die Existenz des Deutschen Reiches verinnerlicht hatten. Somit war der Sedantag jetzt mehr als eine bloße Siegesfeier und nicht mehr allein auf den militärischen Triumph und nur auf Frankreich als den Erbfeind gerichtet. So sehr der vorstehende Bericht den bürgerschaftlichen Gleichklang beschwört, ein Mittun aller Einwohnerschichten dürfte diese Sedanfeier trotz ihres Glanzes dennoch nicht ganz erreicht haben. Denn dieser war und blieb ein Festtag vor allem des kaisertreuen Bürger- und auch Beamtentums, was auch das tragende Mittun der „Casino“ genannten Vereinigung der Honoratioren belegt und sicherlich der Identifikation der Arbeiter- und Tagelöhnerschicht sowie auch der Katholischen Gemeinde, dessen Pfarrer abseits stand, doch gewisse Grenzen setzte.
Nach der Jahrhundertwende findet sich der Sedantag in Wimpfen wie in den meisten Ländern des Deutschen Kaiserreiches nur noch gelegentlich feierlich begangen. Zu dessen Feier im Jahre 1900 heißt es: „Seit dem glorreichen Tage, der uns den Sieg und die Gründung des neuen deutschen Reiches brachte, sind nun 30 Jahre verflossen, Jahre des ungetrübten Friedens. Erst in den letzten Wochen (gemeint ist damit der aus dem Boxer-Aufstand in NO-China und das daraus entstandene bewaffnete Eingreifen eines europäisch-amerikanischen Expeditionskorps) wurden diese unterbrochen. … Neben der neuen Pflicht dürfen wir die alte nicht vergessen.“ Das nachfolgende lange Gedicht „Sedan 1900“, welches das Titelblatt der „Wimpfener Zeitung“ vom 2. September 1900 schmückt, preist die in der Sedanschlacht geborene Macht und Größe des Deutschen Reiches u. a. durch den Hinweis auf dessen in allen Meeren ziehenden „Orlogschiffe“ und damit die im Gange befindliche Flottenrüstung sowie auf die Wahrung seiner Ehre „im fernen Osten“, gemeint die Teilnahme an der Niederschlagung des o. a. sog. Boxeraufstandes:
Schließlich kommt 1907 wieder eine Sedanfeier anlässlich des Besuchs von weit über 100 Damen und Herren des Nationalliberalen Vereins Worms als Dank für die regen Wahlbemühungen Wimpfens zustande. Aber dann findet sich der Sedantag nur noch gelegentlich erwähnt wie z. B. 1911, wo es u. a. in Anspielung auf die enorm gewordene Aufrüstung des Deutschen Reiches herablassend heißt: „Zum Sedantag: … Wir sind doch jetzt Andere geworden, und die Franzosen sind größtenteils auch Andere geworden. Wir könnten sie jetzt fast mit einem gewissen Mitleid betrachten. Wir sind jetzt stark genug zu Wasser und zu Lande und von ihnen hängt es wahrlich nicht mehr ab, ob wir Freie oder Knechte sind.“
Was den Gedächtnistag von Gravelotte angeht, den der 1901 immerhin noch 156 Mitglieder zählende Kriegerverein gegenüber dem Sedantag stets favorisiert hat, so wird dieser sporadisch bis zum Ersten Weltkrieg hin immer wieder feierlich begangen, so z. B. 1882 und 1884, wie die nachfolgend gezeigten beiden Einladungen zeigen, im Rahmen einer zwei Tage danach stattfindenden Vereinsversammlung bzw. einer Feier am Vorabend dieses Tages (siehe dazu auch den Bericht der Zeitung), beides im Saale der Bierbrauerei Finninger:
1889 findet eine durch „Mehrere Alte“ am 18. August beim KAMERADEN METZGER und WIRT HEINRICH GROß veranstaltete Gedächtnisfeier der glorreichen Schlacht mit kameradschaftlicher Unterhaltung statt, zu der alle alten Soldaten des Feldzuges 1870/71 oder auch früherer Kriege eingeladen werden, ebenso 1893 und auch 1901, 1911, 1912 sowie 1913 eine solche im Zusammenhang des 40-jährigen Bestehens des Vereins. 1905 entfacht im Kriegerverein ein Vortrag des Kameraden ZIMMERMANN HERMANN ZOTZ über den Feldzug von 1870/71 neues Erinnerungsleben, der wohlgemerkt nicht am Sedantag, sondern am 26. November gehalten wird und den – allerdings nicht realisierten – Beschluss zeitigt, die Schlachtfelder dieses Krieges zu besuchen.
4. Zur bisherigen Großherzog-Huldigung gesellt jetzt noch die diese überbordende Verehrung bis Verherrlichung des Kaisers.
Die im Rahmen der beschriebenen Aktivitäten des Kriegervereins (siehe z. B. die Turnvater-Jahn-Feier des Jahres 1878) sowie der Sedan- und Gravelotte-Feierlichkeiten (siehe z. B. den Sedantag 1880) immer wieder ausgebrachten Lobesworte und Hochrufe auf den Kaiser lassen erkennen, dass sich nach der Reichsgründung zu der herkömmlichen Verehrung des Großherzogs und der Großherzogin von Hessen als dem Landesvater und der Landesmutter eine solche des die wiedergewonnene Einheit der Länder Deutschlands und seiner Menschen, d. h. das Vaterland, verkörpernden Deutschen Kaisers gesellte. Dass diese Verehrung zu einer Verherrlichung (aus)wuchs und somit jene der Herrschergestalten des Mutterlandes überflügelte, wird sich im Fortgang dieses Abschnitts immer wieder manifestieren. Dazu tritt schließlich fast gleichmächtig diejenige des Reichskanzlers Otto von Bismarck als „des Reiches Schmied“, außerdem noch diejenige des Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke als des „genialen Schlachtenlenkers“ des 1870/71er Krieges, die im Wimpfen der 1870er Jahre infolge dessen verwandtschaftlicher Verbindung zur in ihrem württembergischen Nebenzweig damals vorübergehend dort ansässig gewordenen Familie der Freiherren von Wimpffen ganz konkret in Erscheinung treten sollte.
Wir beginnen mit den dem GROßHERZOG LUDWIG III. VON HESSEN (* Darmstadt 09. 06. 1806, herrschend seit 16. 06. 1848) immer schon geltenden Huldigungen, der Wimpfen allerdings seit 1849 keines Besuchs mehr beehrt hatte. Eine Vollständigkeit der Geschehnisse ist natürlich hier nicht gegeben:
Als am 18. Juni 1873 das 25. Regierungsjubiläum des Großherzogs ansteht, wird dieses festlich begangen: Es werden „sämmtliche Einwohner aufgefordert, zur Hebung der Feier ihre Behausungen mit Fahnen etc. zu schmücken.“ Im „Sool-Bad zum Ritter“ findet ein Festbankett mit anschließendem Ball statt.[22] Die Stadt Wimpfen trägt zu der anlässlich dieses Jubiläums von den hessischen Gemeinden ins Leben gerufenen Stipendien-Stiftung zur Förderung der höheren Ausbildung würdiger junger Leute 100 fl bei und liefert außerdem für das anlässlich dieses Jubiläums geschaffene Prachtalbum über die herausragenden Sehenswürdigkeiten und Landschaften der drei Provinzen des Hessenlandes fotografische Abbildungen.
An des Großherzogs 69. Geburtstag am 09. 06. 1875 werden die öffentlichen Gebäude als teilweise beflaggt gemeldet. Morgens wird der Verbundenheit durch Salutschüsse Ausdruck gegeben. Außerdem findet abends im Saal des „Ritter“ eine Unterhaltung statt, an der sich auch zu dieser Zeit anwesende Kurgäste beteiligen.
Als Großherzog Ludwig III. am 13. 06. 1877 im Alter von 71 Jahren stirbt, kündigt dies die „Wimpfener Zeitung“ am 15. Juni durch den Abdruck eines mit Trauerrand versehenen Extrablattes der Darmstädter Zeitung“ an:„Seine Königliche Hoheit der Großherzog Ludwig III. ist in Folge schwerer Krankheit am 13. Juni um halb 11 Uhr im Schlosse zu Seeheim verschieden.- Allerhöchstderselbe war am 9. Juni 1806 geboren, folgte seinem Vater am 16. Juni 1848 in der Regierung und war ein gütiger, volksfreundlicher, gerechter, den Wissenschaften und Künsten wohlgeneigter Regent, dessen Ableben das ganze Hessenland betrauert.- Die Leiche des höchstseligen Großherzogs soll – dem Vernehmen nach – heute Nacht nach Darmstadt verbracht und morgen in üblicher Weise ausgestellt werden.“
Die folgende nicht unkritische, die Reichgründung einbeziehende, Würdigung der „Wimpfener Zeitung“ selbst lautet:
„Der verschiedene Großherzog hat in schweren Tagen die Regierung übernommen, nachdem er kurze Zeit als Mitregent seinem Vater zur Seite gestanden (siehe Band 2, S. 340 und 341 sowie 361). Sehr bald kam die Reactionszeit, in welcher Hessen nicht verschont blieb und länger als in anderen Staaten aushalten musste (siehe Band 2, S. 362 ff.). Die neue und neueste Zeit fand an dem Großherzog, wenn auch keinen sympathischen Verehrer, doch den Mann, welcher einsah, daß die Wendung der Geschicke Deutschland und Hessen förderlich sei und deßhalb sich damit vollständig aussöhnte und zu seinem Theil an der Weitergestaltung mitwirkte (gemeint ist die Zurückstellung seiner Hinneigung zu Österreich zugunsten der Bindung an Preußen). Das Land hat in dem verstorbenen Großherzog den Fürsten geehrt und geachtet, der es redlich mit ihm meinte. Ein gutes, edles Herz erkannte Jeder. Demselben fiel es aber auch wohl anheim, daß er hin und wieder Einflüssen nachgab, welche besser nicht geltend gemacht worden wären. Er selbst wollte unverkennbar das beste.- Einfach, nüchtern, brauchte er für sich selbst sehr wenig. Für Zwecke der Kunst, der Unterstützung, der Hülfe und Milde fand man ihn stets zugängig und gar viele werden in ihm den anspruchslosen Unterstützer und Helfer verlieren.- Hessen wird dem dahingeschiedenen Fürsten ein ehrendes Andenken gewähren und mit Freuden die Wohltaten und Besserungen, welche unter seiner Regierung dem Volke zu Theil worden, genießend, des Großherzogs Ludwig III. gedenken.“
Da dessen Ehe mit der bereits 1862 verstorbenen GROSSHERZOGIN MATHILDE (siehe Band 2, S. 40, Abb. A 7a u. A 7b, S. 58 u. 59) kinderlos geblieben ist, tritt die Thronfolge sein durchaus national gesinnter Neffe an: GROSSHERZOG LUDWIG IV. VON HESSEN (* 12. 09. 1837 in Bessungen, Thronübernahme: 13. 06. 1877). Siehe dazu:
- Abb. F 5: Verkündigung der Übernahme der Regentschaft durch Großherzog Ludwig IV. im Großherzoglich Hessischen Regierungsblatt Nr. 29 vom 13. Juni 1877.[23]
Auf dessen Befehl wird die übliche Landestrauer für die lange Dauer von zwölf Wochen angeordnet, die jedoch auf landesweite Klagen hin kürzer befristet wird. Am 12. September desselben Jahres wird der 40. Geburtstag des neuen Landesherren in Wimpfen festlich begangen.
Das in
- Abb. F 6a: Großherzog Ludwig IV. von Hessen (* Bessungen 1837 – † Darmstadt 1892)
sowie
- Abb. F 6b: Großherzogin Alice von Hessen (* London 1843 – † Darmstadt 1878)[24]
dargestellte großherzogliche Paar hatte 1862 in Osborne House (Isle of Wigth), dem Landsitz der QUEEN VICTORIA VON GROSSBRITANNIEN und des PRINZGEMAHLS ALBERT (VON SACHSEN-COBURG-GOTHA), den Eltern der Braut, geheiratet und so die verwandtschaftliche Verbindung des Großherzogtums Hessen mit dem englischen Königshaus geknüpft. Daraus ergaben sich durch die Verheiratung von vier der fünf Töchter und zweien der vier der Söhne der Queen mit deutschen Prinzen bzw. Prinzessinnen die weitgestreuten verwandtschaftlichen Bindungen des Großherzoglich-hessischen Hauses zu deutschen Adelshäusern, insbesondere auch zu Preußen.
Die liberal, konstitutionell, demokratisch und sozial gesonnene ENGLISCHE KÖNIGSTOCHTER ALICE hatte in den anderthalb Jahrzehnten ihrer Ehe unendlich viel Segensreiches bewirkt bzw. eingeleitet:
– die Gründung des Alice-Hospitals,
– der Alice-Schwesternschaft,
– des Alice-Frauenvereins und
– der Alice-Eleonoren-Schule.
Und, initiiert durch ihre Mutter, die Queen, hatte die Familie 1866 das am Wilhelmsplatz in Darmstadt erbaute Neue Palais beziehen können. Anderthalb Jahre nach dem Aufstieg ihres Gatten zum Großherzog ausgangs 1878 starb sie wie kurz zuvor ihre jüngste Tochter Marie an Diphterie im Alter von nur 35 Jahren und ließ fünf unmündige Kinder zurück.[25]
In den Mai deren Todesjahres fällt die Ordnung der durch den übermäßigen Hofstaat und jahrelange Defizite in Verwirrung geratenen Finanzen des Großherzoglichen Hauses durch die Tilgung der Schulden teils durch Verkauf von Domänen, teils durch die Übernahme durch das Land sowie die Verminderung der Zivilliste (= die jährliche dem Monarchen aus der Staatskasse gewährte Apanage) um 300.000 Mark auf 1.016.000 Mark.[26]
Dass sich in der „Wimpfener Zeitung“ Ehrenbezeugungen gegenüber dem Großherzog anlässlich von Geburts- und Jubiläumstagen nur sporadisch finden lassen, dürfte nicht nur darauf zurückgehen, dass die Kaiser- und Bismarck-Verehrung wachsend dominant wurde, sondern auch, weil GROSSHERZOG LUDWIG IV. VON HESSEN Bekundungen des Interesses oder sonstiger Zuwendung gegenüber seiner Exklave Wimpfen nicht zu erkennen gegeben hat. Auch hat er sich durch die morganatische Vermählung des Jahres 1884 mit der FRAU VON KOLEMINE (ALEXANDRINE VON HUTTEN-CZAPSKA), die auf Druck der fürstlichen Verwandtschaft im Folgejahr wieder annuliert wurde, in den Augen des Volkes nicht gerade beliebt gemacht.
Freilich hinderte dies eine Anzahl von Beamten und Bürgern Wimpfens nicht, sich am 12. September 1886 anlässlich des 49. Geburtstags Ludwigs IV. zu versammeln und diesem in einem Telegramm „ihre alluntertänigsten Glückwünsche zum heutigen Tage darzubringen“, wobei auch „ein Toast auf Kaiser Wilhelm, den Schirmherrn Deutschlands, und Fürst Alexander“ dargebracht wurde. Der Großherzog sagt daraufhin für alle Glückwünsche telegrafisch herzlichen Dank.
Mit „FÜRST ALEXANDER“ ist ALEXANDER VON BATTENBERG (1857 – 1893) gemeint, Sohn von PRINZ ALEXANDER VON HESSEN-DARMSTADT (1823 – 1888), des Bruders von GROSSHERZOG LUDWIG III. VON HESSEN, vermählt 1851 mit JULIE GRÄFIN HAUKE (1825 – 1895), woraus das HAUS BATTENBERG (MOUNTBATTON) der hessischen Herrscherfamilie gewachsen ist. Dem Vorgenannten war es 1885 gelungen, zum ersten Fürsten von Bulgarien erhoben zu werden; doch war er fünf Tage vor diesem Toast der Wimpfener Untertanen zum Verzicht auf den bulgarischen Thron wegen persönlicher Vorbehalte des ZAREN ALEXANDER III. (1845 – 1894) gezwungen worden, der durch die Ehe von Alexanders Tante PRINZESSIN MARIE VON HESSEN (1824 – 1880) mit ZAR ALEXANDER II. (1818 – 1881) dessen Vetter gewesen ist. Hieraus wird die Versippung des großherzoglich-hessischen Hauses auch mit dem russischen Zarenhaus der Romanow evident, die sich damit fortsetzt, dass die PRINZESSIN ELISABETH (1864 – 1918), die zweitälteste Tochter der GROSSHERZOGIN ALICE, später JELISAWETA FJODOROWNA heißend, 1884 den GROSSFÜRSTEN SERGEI ALEXANDROWITSCH ROMANOW (1857 – 1905) geheiratet hat und GROßHERZOGIN ALICES jüngste überlebende Tochter PRINZESSIN ALIX (1872 – 1918), später ALEXANDRA FJODOROWNA heißend, 1894 den ZAREN NIKOLAUS II. (1868 – 1918) heiraten wird.[27]
Noch zweimal liegen Berichte über Feiern, initiiert von den hessischen Beamten, zum Geburtstag Ludwigs IV. vor:
– 1889: Die Stadt wird geschmückt und es wird ein Festessen im „Ritter“ abgehalten. Dabei sagt OBERAMTSRICHTER SÜFFERT, der Wert des geistigen Bandes zwischen Fürst und Volk nehme trotz der Entfernung des Mutterlandes nicht ab. Der Wortlaut das abgesandten Telegramms lautet: „Fern vom Mutterlande, doch gleich herzlich, sendet untertänigste Glückwünsche zum Allerhöchsten Geburtsfeste die zahlreiche Festversammlung im Hotel Ritter zu Wimpfen.“
– 1890: In Wimpfen werden wieder die Häuser beflaggt, Böllerschüsse abgegeben und am Abend findet im „Mathildenbad“ eine Festtafel mit 50 Teilnehmern statt, bei der REALLEHRER KAHL den offiziellen Toast auf den Großherzog ausbringt:„Wenn auch fern vom Mutterlande, wollen wir nicht zurückbleiben.“ Es folgen Musikvorträge und patriotische Lieder. Die Zeitung schreibt lobspendend: „Das hessische Volk feiert wieder den Geburtstag des geliebten Landesherrn und wieder steigen aus vielen tausend treuen Herzen innigste Glück- und Segenswünsche zum Himmel empor für das fernere Wohlergehen des Großherzogs und seines erlauchten Hauses. Weiß doch Jedermann im Hessenlande, welch warme Fürsorge der Fürst allen Gebieten des öffentlichen Lebens zuwendet, wie er unausgesetzt bestrebt ist, im Vereine mit seiner weisen Regierung nicht nur die Wohlfahrt in wirtschaftlicher Beziehung zu heben, sondern auch die kulturellen Fragen zum Segen seines Volkes zu fördern. …“[28]
Am 13. März 1892 im Alter von nur 54 ½ Jahren stirbt GROßHERZOG LUDWIG IV. an einem Schlaganfall. „Die Trauernachricht vom Ableben unseres geliebten Landesfürsten“, so die Zeitungsnachricht mit dickem Trauerrand, „haben wir um ½ 10 Uhr durch Extrablatt zur Kenntnis unserer Leser gebracht. Um 11 Uhr verkündete Trauergeläute von der evangelischen Kirche das schmerzliche Ereignis. Laut Ausschreiben des Großherzoglichen Oberkonsistoriums hat dieses vom 14. ds. an während 4 Wochen in allen evangelischen Kirchen des Großherzogtums täglich von 11 – 12 Uhr stattzufinden.“ Am nachfolgenden Sonntag fand eine allgemeine kirchliche Trauerfeier statt.
Nachfolger wurde sein fast 24-jähriger Sohn GROßHERZOG ERNST LUDWIG VON HESSEN (* 25. 11. 1878, Großherzog ab 13. 03. 1892), der erklärte, im Sinne seines Vaters regieren zu wollen. Als nach kaum neun Monaten zum ersten Mal der Geburtstag des regierenden jugendlichen Landesfürsten ansteht, wird dieser üblicherweise mit einem Festessen im „Ritter“ bei festlich geschmückter Stadt begangen und werden per Telegramm Glückwünsche gesandt. Und in der Zeitung wird festgestellt, auf den neuen Regenten sei „nicht nur die Regierung, sondern auch die Liebe und Treue seines Volkes übergegangen“. Damals konnten die Wimpfener natürlich noch nicht ahnen, dass gerade dieser letzte der fünf ihrer Exklave vorstehenden Großherzöge von Hessen, der sich ungern mit Militärischem befasste und als ein Mann der Kunst, der Wissenschaft und des Theaters galt, in den etwas mehr als 2 ½ Jahrzehnten seiner Regentschaft für die Belange ihrer Stadt ein ganz besonderes Interesse bekunden und unter seiner Hand sein Land mannigfache Hilfen und Impulse insbesondere der Erhaltung und Pflege ihrer Denkmäler zur Förderung vor allem des Fremdenverkehrs geben würde.
Bei der nunmehr folgenden Suche der zahllosen Bekundungen der Verehrung des Kaisers und dessen Dynasten-Familie stoßen wir zunächst u. a. auf eine Zeitungsmeldung vom 4. September 1874, in der es heißt:
„Heute nachmittag mit dem Zug nach halb 3 Uhr, welchem ein Salonwagen angehängt war, fuhr der deutsche Kronprinz (FRIEDRICH WILHELM – der spätere KAISER FRIEDRICH III.) in Begleitung einiger Stabsoffiziere zum Zwecke der schon vor kurzem in diesem Blatte erwähnten Truppen-Inspection bei Heilbronn hier durch. Der Zug hatte einige Minuten Aufenthalt, während dessen ihm von zarter Hand durch das offene Fenster ein Bouquet zugeworfen wurde, worauf der Kronprinz freundlich grüßte und dankte; Se. Kais. Hoheit trug blaue Dragoner-Uniform. ...“
Anfang Mai 1874 huldigt Schriftsteller Franz Karl Hiller im „Ritter“ dem Kronprinzen und dem Kaiser in Gedicht-Deklamationen. Über KAISER WILHELM I. (* 22. 03. 1797) selbst findet sich zu dessen 80. Geburtstag am 22. März 1877 ein Gedicht, zu dem, um dem Vorwurf der Lobhudelei zu begegnen, gesagt wird:
„Wir stimmen nicht in hergebrachter Weise ein Phrasen-Loblied auf den Kaiser an“:
Mit „manch gift’gem Schwamm“ sind sicherlich die als Feinde des Reiches geltenden sog. Ultramontanen und noch mehr die auch in Wimpfen, wie an späterer Stelle zu zeigen sein wird, im Kommen begriffenen Sozialdemokraten gemeint, deren 1869 von KARL LIEBKNECHT und AUGUST BEBEL gegründete „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ sich 1875 mit dem 1863 von FERDINAND LASALLE gegründeten „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ zur „Sozialistischen Arbeiterpartei“ vereinigt und somit an Schlagkraft gewonnen hatte. Welch primitiven Mitteln öffentlichen Lächerlichmachens deren Anhänger ausgesetzt gewesen sind, zeigt eine Anfang März 1975 vom „Wimpfener Bote“ übernommene Glosse:
„Vermischtes: Große Affen werden jetzt auf der Insel Ceylon gewöhnlich als Sklaven, und zwar zum Pflücken der Kokosnüsse verwendet. Vom Sozialdemokraten unterscheidet sich der Affenkuli dadurch sehr wesentlich, daß diesem die Arbeit ungeheuren Spaß macht. Den Fall einer jeden Kocosnuß begleitet er nämlich mit einem Luftsprung und lebhaftem Grinsen. Haec fabula docet (man sieht), daß die Sozialdemokraten jetzt übrig sind.“
Solch negative Klassifikationen erschienen der Mehrzahl der Deutschen im Frühsommer des Folgejahres 1878 durch zwei kurz hintereinander auf KAISER WILHELM (I.) in Berlin Unter den Linden erfolgte Attentate bestätigt, die zu großer Aufregung in der Bevölkerung führen.
Der erste missglückte Versuch des Leipziger Klempnergesellen MAX HÖDEL am 11. Mai 1878 wird in der Zeitung u. a. so kommentiert:
„Die Hausdurchsuchung bei demselben ergab, dass er mit Leib und Seele der Sozialdemokratie angehöre. Er gehöre der Christlich-sozialen Partei an, sei aber Anarchist von reinem Wasser, gab er zu.“
Das zweite Attentat vom 2. Juni 1878 des KARL EDUARD NOBILING wird von der Zeitung durch folgendes Extrablatt mitgeteilt:[29]
Anschließend erscheinen laufend fettgedruckte Anzeigen über das wachsend sich bessernde Befinden des Kaisers, die Ergebnisse der Vernehmungen des Attentäters, dessen angebliche Beziehungen zur Sozialdemokratie sowie über Maßnahmen zur Eindämmung derselben, schließlich die folgenden Entrüstung, Scham und Kaisertreue ausdrücken wollenden unbeholfenen Reimzeilen
Aus Anlass der Errettung Kaiser Wilhelms I. wird im ganzen Reich die Kaiser-Wilhelm-Spende ausgeschrieben:
„Zur Wilhelm-Spende! Am 20., 21., 22. Juli dieses Jahres soll nunmehr die in allen Zeitungen angekündigte Wilhelms-Spende gesammelt werden. In allen Städten und Dörfern des Deutschen Reiches, in Schule und Haus, bei den Deutschen aller Religionsbekenntnisse sollen die Hände sich regen zur Darbringung der Spende. Mann, Frau, Kind und Greis, ein Jeglicher soll beisteuern, denn nicht die Größe der Gabe, sondern das Gefühl, in welchem sie gegeben wird ist von Bedeutung. Kein Wort ist genügend zum Ausdrucke des Schmerzes, daß unser geliebter Deutscher Kaiser, der Einiger des Reiches, von ruchloser Hand verletzt wurde. Kein Wort ist genügend, um die Freude auszudrücken und den Dank gegen Gott, daß das Leben des kaiserlichen Greises gerettet wurde. Wo aber das Wort versagt, ist zu allen Zeiten ein äußeres Opfer dargebracht worden. So möge Jeder zur Wilhelms-Spende ein Kleines beisteuern als Ausdruck der Freude und des Dankes, und jedes deutsche Gemüt möge sich daran erquicken, daß es beitrug, seinem Kaiser von dem ihm von Einzelnen angetanen Schmerz millionenfältiger Freude zu bereiten. Berlin, den 13. Juli. – Im Namen und Auftrage des von General-Feldmarschall Grafen von Moltke geleiteten Comités für die Wilhelms-Spende. Der Geschäftsführende Ausschuß.“
Sammelstellen in der Gemeinde Wimpfen sind: Großherzogliche Bürgermeisterei, Großh. Beigeordneter im Tal und zu Hohenstadt. Diese Spende erbringt im Reich rund 12 Millionen Mark und erzielt in Wimpfen am Berg 63,26 Mark, im Tal 4,10 Mark, in Hohenstadt 7,50 Mark, in Helmhof 1,28 Mark, zusammen 76,14 Mark.
Am 82. Geburtstag des Kaisers im Folgejahr 1879 ist die ganze Stadt (mit Ausnahme einiger Häuser, wie die Zeitung tadelnd anfügt) festlich beflaggt. Und anlässlich der Goldenen Hochzeit des Kaisers und seiner Gemahlin KAISERIN AUGUSTA (GEB. VON SACHSEN-WEIMAR-EISENACH) am 11. Juni 1879 ergeht von BÜRGERMEISTER ERNST an die Bewohner Wimpfens in der Zeitung die „Aufforderung“, ihre Bewohnungen zu beflaggen. Um 11 Uhr ertönt vom Blauen Turm ein Choral; die Höhere Bürgerschule unternimmt, geschmückt mit schwarz-weiß-roten Bändern, einen Spaziergang nach Jagstfeld, wo die eben eröffnete Bahnstrecke neckarabwärts nach Neckarelz interessiert. Und ein Schieferdecker, der gerade mit Reparaturen auf dem Dache der Stadtkirche beschäftigt ist, gibt seinen Gefühlen für den hohen Festtag des Kaiserpaares dadurch Ausdruck, dass er sich gleichzeitig, wo die Musik auf dem Turm erschallt, auf die Spitze des Kirchturmes stellt, von da aus drei Pistolenschüsse abfeuert und dabei in der anderen Hand eine schwarzweißrote Flagge hält. Am 6. März des Folgejahres 1880 steht lobspendend zu lesen.
„Für die Erhaltung des Friedens arbeitet Kaiser Wilhelm auch persönlich. Seine gewichtigen Glückwünsche und seinen Wunsch für den Frieden zwischen Deutschland und Rußland hat er auch vom Fürsten Bismarck unterzeichnen lassen, um sie noch gewichtiger zu machen.“
Und am 21. März 1881 heißt es huldigend:
„Wimpfen. Mit dem heutigen Tage ist Kaiser Wilhelm in sein 85. Lebensjahr eingetreten. Dieser Ruf erscholl heute gewiß allerwärts in deutschen Landen und verkündet, daß die ‚kaiserlose, die schreckliche Zeit’, vorüber ist. Und daß dem so ist – wer wird es heute noch zu leugnen wagen, daß der Heldengreis, der einfach-schlichte und doch so wahrhaft majestätische Mann, dessen ehrwürdiges Haupt die Krone des wiedererstandenen Reiches ziert, sein redlich Teil an dem Werke der Einigung, der sicheren Machtstellung nach außen, der friedlichen und freiheitlichen Entwicklung im Innern unseres Vaterlandes hat. …“
Dreieinhalb Jahre später, am 22. Oktober 1884, kommt KAISER WILHELM I. Wimpfen ganz nah, eine besondere Denkwürigkeit, worüber die Zeitung unter dem 23. 10. 1884 folgendermaßen berichtet:[30]
Als Kaiser Wilhelm am 22. März 1887 90 Jahre alt ist und aus diesem Anlass dieser Tag im Reich als „Nationales Fest“ begangen wird, erschallen über die beflaggte Stadt morgens und abends Böllersalven und wird vom Blauen Turm „Heil Dir im Siegerkranz“ geblasen. Im „Mathildenbad“ versammeln sich sämtliche Vereine der Stadt zu einer würdigen Feier, bei der Hochs auf den Kaiser und König sowie auf Graf Moltke und das deutsche Heer ausgebracht werden. „Es war eine Freude für jeden Patrioten zu sehen, wie alles in Einigkeit beisammen war.“ Auch wird vom Pfarrer das Gedicht des Kaisers „Der Oberrhein“ vorgetragen. Wimpfen ehrt schließlich den „greisen Heldenkaiser“ zum letzten Male anlässlich des am 18. Januar 1888 sich jährenden Tages der Kaiserproklamation von Versailles durch eine sog. Kaiserfeier. Dabei hält REALLEHRER LEOPOLD ENSGRABER zunächst einen Vortrag über die Vorgeschichte der Reichsgründung und der VORSTAND DES TURNVEREINS WILHELM KLEYER teilt dann die Proklamation von Versailles mit „und erinnerte besonders an die großen Verdienste des Kaisers um den Frieden der Welt und die väterliche Fürsorge für den Arbeiterstand“. Über das zuletzt Gesagte wird noch an späterer Stelle ausführlich zu reden sein.
Anderthalb Wochen vor dem 91. Geburtstag des Kaisers am Sonntag, den 11. März 1888, meldet die „Wimpfener Zeitung“ auf der Kopfseite einer Sonderausgabe wiederum mit schwarzem Trauerrand, dass Kaiser Wilhelm am Vortag gestorben ist:
Amtlicherseits wird mitgeteilt: „Nach Allerhöchster Entschließung Sr. Königlichen Hoheit des Großherzogs soll aus Anlaß des Ablebens Sr. Majestät des Kaisers Wilhelm vom 11. – 18. d. M. einschließlich in den evangelischen wie katholischen Kirchen des Großherzogtums täglich in den Vormittagsstunden von 11 – 12 Uhr das Trauergeläute stattfinden, auch ist außerdem durch Erlaß des Gr. Ministeriums des Innern und der Justiz vom 9. l. M. bestimmt worden, daß von diesem Tage an bis auf weiteres alle öffentlichen Tänze, Spiel und Musik und sonstige Lustbarkeiten allgemein einzustellen sind.“ Es finden Gedächtnisfeiern an allen Schulen Hessens für „den Gründer des neuen deutschen Reiches durch siegreiche Schlachten und den Mehrer desselben durch Werke des Friedens“ statt. Auch die Höhere Töchterschule trauert. Der Samstag, 17. März, wird als ein Trauertag des ganzen deutschen Volkes bestimmt, wo in vielen Städten und Städtchen die Aufforderung ergeht, Geschäfte und Läden an diesem Tag zu schließen, um auch äußerlich dem tiefen Leid Ausdruck zu geben, das alle Herzen erfüllt. „Um so mehr“, so lautet eine kritische Zeitungszuschrift, „ist es zu verwundern, daß das Amtsgericht Wimpfen an diesem hehren Trauertag eine Schöffengerichtssitzung abhielt. … Auch von Seiten der Wimpfener Bevölkerung war die äußere Kundgebung ihres Leides in der Tat eine traurige. Abgesehen von den umflorten Fahnen des Post- und Bahngebäudes, fand sich in Wimpfen sage und schreibe eine einzige Trauerflagge. Dagegen war in den Nachbarorten Kochendorf und Neckarsulm kaum ein Haus ohne Trauerfahne zu sehen. Hoffentlich werden die Wimpfener desto zahlreicher morgen dem Trauergottesdienst beiwohnen, der in der protestantischen Kirche um 9 ½ Uhr, in der katholischen um 1 ½ Uhr ist.“ In einer Entgegnung erklärt ein unbekannter Schreiber, es habe die äußere Anregung für eine Beflaggung gefehlt. Und: „Wo blieb die Dekoration der Herren Einsender? Patriotismus zeigt sich in 300 Mitgliedern beim Hilfsverein des Roten Kreuzes.“ Noch nicht ganz zwei Jahre sind vergangen, als am 7. Januar 1890 KAISERIN AUGUSTA im 79. Lebensjahr stirbt. Auch ihr widmet die Zeitung ein ganzseitiges Extrablatt mit Trauerrand und ausführlicher Würdigung ihres Lebens und insbesondere ihres caritativen Tuns.
Nur 99 Tage sind vergangen, seitdem KAISER FRIEDRICH III. (* 18. 10. 1831) die Nachfolge seines Vaters angetreten hat, als der an Kehlkopfkrebs Leidende im 57. Lebensjahr stirbt. Wieder meldet die „Wimpfener Zeitung“ dessen am 15. Juni 1888 eingetretenen Tod und die Umstände seiner Krankheit und seines Leidens in einer Sonntagsausgabe, datiert mit 17. Juni 1888, mit Trauerrand:[31]
Allgemein gibt sich die Trauer um das Hinscheiden des Kaisers auch in Wimpfen kund. Am Rathaus weht seit Eintreffen der Todesnachricht eine schwarze Flagge und 14 Tage lang werden die Kirchenglocken von 11 – 12 Uhr mittags geläutet. Am Beisetzungstage sind viele Gebäude beflaggt, teils mit schwarz umflorten Fahnen, teils mit Reichsfahnen mit schwarzen Schleifen. In den Schulen werden Ansprachen gehalten, am folgenden Sonntag finden in den Kirchen Trauergottesdienste statt; abends hält der Kriegerverein eine Trauerfeier im „Ritter“ mit „zahlreicher Teilnahme aus allen Schichten“. Die Trauer ist eine allgemeine. „Ein eigentümlicher Zufall trifft die am 1. Oktober vorigen Jahres eingetretenen Einjährigen. Sie dienen in einem Jahr unter drei Kaisern und haben doch keines Kaisers Geburtstag mitgemacht.“[32] Somit wird allgemein das Jahr 1888 als Unglücksjahr gesehen.
Der 30. Geburtstag bzw. das erste gefeierte Geburtstagsfest seines nachgefolgten Sohnes KAISER WILHELM II. (* 27. 01. 1859) im Jahr 1889 wird wie überall in Wimpfen festlich mit einem im „Ritter“ am Vortag von den Vereinen wie im Vorjahr unter dem Titel „Kaiserfeier“ abgehaltenen Kommers bei reich beflaggter Stadt begangen. Dazu ergeht in der Zeitung die nachfolgend gezeigte Einladung:[33]
In den Folgejahren erreicht die Verehrung dieses dritten deutschen Kaisers in Wimpfen höchste Grade:
– 1890: „Das sprichwörtlich gewordene Hohenzollernwetter“, so berichtet die Zeitung unter dem 28. Januar, „welches sonst regelmäßig an unseres Kaisers Geburtstag vorzuherrschen pflegte, hat sich diesmal nicht bewährt.“ Es herrscht von Morgen an heftiger Sturm, so dass das Flaggen unmöglich ist. Im Mathildenbad wird ein Bankett gehalten und von dort dem Kaiser die folgende Depesche gesandt: „An seine Majestät Kaiser Wilhelm! Die aus Anlaß Allerhöchst Ihres Geburtstages im Mathildenbad zahlreich versammelten Einwohner Wimpfens bringen Ew. Majestät die alleruntertänigsten Glückwünsche dar. Lang lebe der Kaiser zum Segen und Heile unseres geliebten deutschen Vaterlandes! Im Auftrag Link, Premier-Leutnant d. L.“ Bezeichnenderweise fügt der beauftragte Absender, der KAUFMANN UND FABRIKANT OSKAR LINK, dem Namen seinen Offiziersrang bei, Zeichen des unter Wilhelm II. im Deutschen Reich schließlich kulminierenden Militär- und Uniformkultes und der Dominanz der Militärkaste im Wertesystem der Gesellschaft. Die Realschule hält einen besonderen Festakt, bei dem der Redner einen Rückblick hält und die segensreiche Regierung des ersten deutschen Kaisers und dessen die Wohlfahrt des Volkes fördernde Friedenspolitik hervorhebt und feststellt, dass sein Enkel Wilhelm II. in dessen Fußstapfen getreten sei: jedem Deutschen ein Muster an Pflichttreue und hingebender Arbeit im Dienste des Vaterlandes.-
– Am 9. Februar 1890 zollt die Zeitung dem Kaiser höchstes Lob:
„Kaiser Wilhelm II. und die Arbeiterfrage … Das ‚soziale Königtum’ ist für die Hohenzollern keine Phrase historischer Schmeichelrede. Das beweist der junge Erbe, der im Sonnenlichte der Gegenwart die Krone trägt. …“
Dieser hat nämlich toleriert, dass im Reichstag das seit 1878 geltende Sozialistengesetz nicht mehr erneuert wird und ohne Gegenzeichnung seines widerstrebenden Reichskanzlers Bismarck zwei Erlasse zur Sozialpolitik (Ankündigung einer internationalen Konferenz für Arbeiterschutz, Beschränkung der Höchstarbeitszeit pro Tag, der Frauenarbeit, Verbot der Kinderarbeit u. v. a. m.) veröffentlicht und somit – den Bruch mit Bismarck in Kauf nehmend – den Anschein erweckt, sich als sozialer Kaiser einen Namen machen zu wollen.[34] So ist auch das folgende unter dem 12. Februar 1890 erschienene Lobgedicht zu verstehen:
Wir werden an späterer Stelle im Zusammenhang mit der Darstellung der Ergebnisse der Reichstagswahlen und der Schilderung des Wirkens des REICHSKANZLERS OTTO VON BISMARCK auf diese kaiserlichen Erlasse zurückkommen.
– 1891: Anlässlich von Kaisers Geburtstag wird ein Festbankett gehalten. Bei diesem bringt den letzten Toast REDAKTEUR S. DOHANY aus, der am 1. Oktober 1888 durch Kauf unter Erhaltung des Namens „C. Dieterich’sche Buchdruckerei“ an die Stelle von CARL PAUL DIETERICH getreten ist und dann die Buchdruckerei nebst Verlag der „Wimpfener Zeitung“ 20 Jahre innegehabt hat. Dieser schildert „die Gefahren … , welche dem Reich im Innern und von außen drohen, die aber zerschellen müssen an dem Einigkeitsgedanken, der die Deutschen aller Parteien beseelen solle:
Sein Hoch galt dem Deutschen Reich, das ein brausendes Echo fand und mit Enthusiasmus wurde gemeinschaftlich das Deutschland-Deutschland über alles gesungen.“ Damit führt der Redner die Anwesenden in die Spur, in die der zwiespältige KAISER WILHELM II. und die Politik der Bismarck nachgefolgten Reichskanzler gerät: in die der Hochrüstung, des National- und Machtgehabes, der Zerschlagung des Bismarck’schen Bündnissystems, des Vorranges des Militärischen, der Aufrechterhaltung des Feindverhältnisses mit Frankreich u. a. m.
– 1892: Des Kaisers Geburtstag wird in den festlich dekorierten Räumen des Mathildenbades durch die vereinigten Vereine bei (angeblich) zahlreicher „Beteiligung aller Berufskreise“ begangen. REDAKTEUR DOHANY eröffnet die Feier durch ein Hoch auf Seine Majestät den Kaiser, den er als „einen Hort des Friedens“ preist. Anschließend wird jenes Lied gesungen, das in den Jahren des Deutschen Kaiserreiches zwar als Repräsentationslied bei patriotischen Feiern aller Art erklungen, aber eher eine preußische Volkshymne denn eine Nationalhymne gewesen ist, zumal die Melodie sich mit der von „God save the King“, d. h. mit der englischen Nationalhymne, deckte:
Es folgt ein Toast auf den Großherzog („Heil, Ludwig, heil!“). Dann bringt der TURNVEREINSVORSTAND WILHELM KLEYER einen Trinkspruch auf das geeinte Vaterland und der KRIEGERVEREINSVORSTAND WILHELM TRAUTMANN einen solchen auf das deutsche Heer aus. Die Reden „finden ein begeisters Echo“. Es folgen Chöre, Orchestervorträge, weitere patriotische Lieder und am Schluss ein Toast auf (sogar!) die deutschen Frauen.
Den gleichen und kaum mehr steigerbaren Stil der Kaiserverehrung bis -verherrlichung sowie dasselbe Schema des Ablaufes weisen auch die weiteren sog. Fest-Bankette auf, die in den weiteren 1890er Jahren und in jenen des beginnenden 20. Jahrhunderts unter der Wortführung der vordersten Köpfe der Stadtverwaltung und -vertretung, des Evangelischen Kirchen- und des Höheren Schul- sowie des Vereinswesens alljährlich im Hotel „Mathildenbad“ oder im Gasthof „Ritter“ zu „Kaisers Geburtstag“ veranstaltet und teilweise Gegenstand späterer Betrachtung in Zusammenhang mit der Reichspolitik um die Jahrhundertwende sein werden.
5. Die wachsende Verehrung auch des Reichskanzlers Otto von Bismarck wird zum Spiegel seines Kampfes insbesondere gegen die Sozialdemokratie durch den Erlass des sog. Sozialistengesetzes sowie der Schaffung der sozialen Gesetzgebung, schließlich seiner Entlassung im Zwist mit Kaiser Wilhelm II.
Was die Zeugnisse des Tuns und der Verehrung des REICHSKANZLERS OTTO VON BISMARCK (* 01. 04. 1815) betrifft, so tauchen diese allein auf diesen bezogen ab 1878 – und jetzt häufig und schließliich überschwänglich – und damit zu dem Zeitpunkt auf, da auf dessen Drängen und zum Zwecke der Bekämpfung der Sozialdemokraten anlässlich des Nobiling-Attentates der Reichstag durch den Bunderat und Kaiser nach § 24 der Reichsverfassung aufgelöst wird und Neuwahlen ausgeschrieben werden. Aussagekräftig ist hier das folgende von der „Wimpfener Zeitung“ unter dem 18. Juli 1878 aus „Urwühler’s humoristisch-satyrischem Haus- und Reisespalter“ entnommene Reimwerk:
Neben dieser Schmähung der Sozialdemokratie in Versen steht eine längere solche in Prosa, die auf die bevorstehende Neuwahl des Reichtages abgestimmt ist und darauf abhebt, die Wählerschaft von einem Votum für die Sozialdemokraten abzubringen:
„Welch erbärmlicher Charakter von der Sozialdemokratie ausgeht, legt wieder ein in der neuesten Wahlagitation eines nunmehr in Leipzig erscheinenden sozialdemokratischen Blattes erscheinender Aufruf ein recht deutliches Zeugnis ab. Dieses Blatt, das leider auch hier in Wimpfen Anhänger hat, schreibt wörtlich: ‚Parteigenossen! Laßt euch nicht provozieren. Man will schießen. Die Reaktion braucht Krawalle, um das Spiel zu gewinnen.- An die Arbeiter! Angesichts … der Maßregeln, welche den Arbeitern ihre Überzeugung rauben sollen (gemeint damit sind vor allem die von Bismarck angestrebten sog. Sozialistengesetze, mit denen der Aktionsspielraum der Sozialdemokratie einzuengen gesucht wird), ersuchen wir unsere Gesinnungsgenossen nochmals, Alles zu versprechen, ja selbst auf Ehrenwort zu versprechen und zu unterschreiben, was die Machthaber von uns fordern. Wie ein durch die Folter erzwungener Eid nichtig war und von jedem ehrenhaften Priester gelöst worden ist, so ist ein durch die Hungerfolter ausgepreßtes Ehrenwort zu brechen, um die Unterschrift zu verleugnen. Eure Bedränger wollen keine ehrlichen offenen Arbeiter haben, heuchelt Ihnen deshalb ins Gesicht hinein und bleibt doch Eurer Klasse, bleibt der sozialdemokratischen Fahne treu. Leistet Eure Unterstützung heimlich, da Ihr es nicht öffentlich dürft. Eure Verfolger haben Euch in Acht erklärt, Eure Antwort am 30. Juli bei den Reichstagswahlen.’“ – Anmerkung der Redaktion: „Wir glauben, daß der schlechteste Jesuit nicht niederträchtiger zum Treu- und Wortbruch auffordern kann, als diese mehr als frechen Auslassungen es sich mit Verhöhnung aller Religions- und Staatsgesetze erdreisten.“
Hieraus spürt man, dass der Wahlkampf zur Neuwahl zum Vierten Deutschen Reichstag des Jahres 1878, die aufgrund der besonderen Umstände als die sog. Attentatswahl in die Geschichte einging, um das vor allem von konservativen Kräften um Bismarck geforderte und den gemäßigteren Kräften verworfene sog. Sozialistengesetz geführt wurde. Die Feststellung, dass das zitierte Leipziger Blatt auch in Wimpfen Anhänger habe, dürfte fraglos stimmen. Denn im Vorjahr 1877 hatte kurz nach den Wahlen zum Dritten Deutschen Reichstag Mitte Januar der folgende Aufruf in der Wimpfener Zeitung bei den Gemeindeoberen und der Besitzbürgerschaft für einige Beunruhigung gesorgt:
„Sämtliche hiesigen Arbeiter werden zu einer wichtigen Besprechung auf Sonntag, den 21. 1., Nachmittags 3 Uhr in das obere Lokal der Rief’schen Bierbrauerei freundlich eingeladen. Mehrere Arbeiter.“ Es dürfte wohl kein Zufall sein, dass etwa eine Woche später unter dem 28. 01. im Ressort „Politische Übersicht“ eine größere Abhandlung abgedruckt war, in der die „nicht ganz unberechtigte Besorgnis in manchen Gemütern“ über die „verhältnismäßig große Anzahl der aus der Wahlurne hervorgegangenen sozialdemokratischen Abgeordneten“ (jetzt 12 Sitze gegenüber vorher 9 Sitzen) geäußert wurde. „Die Ausdehnung“, so heißt es weiter, „welche der Sozialismus bereits in allen Volksklassen gewonnen hat, ist durch die Wahlen recht deutlich hervorgegangen. Die Gefahr, welche in dem Weiterschreiten dieser Partei für die bürgerliche und gesellschaftliche Ordnung erwächst, darf durchaus nicht unterschätzt werden. … Wem hat Frankreich seine Revolutionsgräuel zu verdanken? Den Kommunisten. … Und bei uns entfalten die ihre unheilvolle Tätigkeit unter dem Namen Sozialdemokraten. … Darum ist es Zeit, in gemeinsamen Bestrebungen dahin zu arbeiten, daß dem Sozialismus ein gewaltiger Dämpfer aufgesetzt und das gefährliche Element in Schranken eingedämmt wird.“
Dieser Einladung war unter dem 30. 01. 1877 der nachfolgende Zeitungsbericht gefolgt, der zeigt, dass die Sozialdemokratie im Begriff war, auch im kleinen Wimpfen Fuß zu fassen:
„Bei der auf vorigen Sonntag ausgeschriebenen Versammlung in der Riefschen Brauerei hatte sich eine beträchtliche Anzahl junger Leute eingefunden, um über die Gründung eines Arbeitervereins ihre Meinung gegenseitig auszutauschen. Mit einigen einleitenden Worten seitens einer der Anwesenden wurde die Versammlung eröffnet und der Zweck, welchen der Verein zu verfolgen gedenkt, in klarer Weise dargelegt, und der Versammlung auseinandergesetzt, daß es sich nicht, wie schon von verschiedener Seite öffentlich behauptet wurde, um sozialistische Agitationen handle, sondern lediglich nur daraufhin gewirkt werde, die hiesigen jungen Leute an bestimmten Tagen in ungezwungener fröhlicher Unterhaltung beisammenzusehen und hiebei hauptsächlich der Pflege des Gesangs besondere Aufmerksamkeit zu widmen.- Die zahlreiche Beteiligung an beiden bis jetzt stattgehabten Versammlungen ist ein Beweis, daß die Sache allgemein Anklang gefunden hat und der durch die freiwilligen Beiträge der Anwesenden zusammengebrachte Fonds wird es bald möglich machen, daß eine kleine Sammlung unterhaltender und belehrender Schriften ausgelegt wird, welche jedem Mitglied zur Verfügung freisteht. Im Interesse der guten Sache, zu deren Förderung seitens der bisherigen Mitglieder keine Mühe gescheut wird, wäre es zu wünschen, daß der am nächsten Sonntag im obengenannten Lokal 2 Uhr stattfindenden Versammlung nicht nur die definitiven Mitglieder, sondern überhaupt jedermann, der sich für die Sache interessiert, beiwohnen möchte.“
Auch wenn hier sozialdemokratische Agitation als Ziel dieser Vereinsgründung in Abrede gestellt wird, so lag es auf der Hand, dass es nicht dabei bleiben würde, nur Gesang zu pflegen. Und der Hinweis auf die angestrebte Anschaffung unterhaltender und belehrender Schriften lässt ahnen, dass auch politisch-sozialdemokratisches Schriftengut (wie z. B. die illegal im Reich verbreitete Zeitung „Der Sozialdemokrat“) unter die Arbeiterschaft gebracht werden würde. Diese rekrutierte sich in Wimpfen hauptsächlich aus Arbeitern der Saline, deren Zahl laut Reichstagswahlliste von 1877 in Wimpfen am Berg 46 und in Wimpfen im Tal 15 (nicht erfasst diejenigen unter 25 Jahren und beschränkt auf diejenigen aus Wimpfen), zusammen 61, betrug. Dazu kam die wesentlich kleinere, aber wachsende Gruppe von sog. Zigarrenmachern der nach der Reichsgründung entstandenen sog. Tabakfabrik (Zigarrenfabrikation) des Tabakfabrikanten JOSEF HOSP bzw. später BETZ sowie AUGUST STECHER, von denen in der genannten Liste des Jahres 1877 in Wimpfen am Berg 8 zu finden sind. Von Angehörigen dieser letzten Gruppe dürfte die Initiative der Gründung ausgegangen sein. Denn was zustandekam, das war ein Ortsverein des 1865/66 durch den ehemaligen Zigarrenmacher aus Leipzig und späteren sozialdemokratischen Politiker, Lyriker und Gewerkschaftler FRIEDRICH WILHELM FRITZSCHE gegründeten Deutschen Tabakarbeiter-Vereins, welcher die erste zentrale deutsche gewerkschaftliche Organisation gewesen war und seinen Sitz in Berlin hatte.[35] Die Tabakarbeiterschaft galt als ganz besonders und frühestens in sozialdemokratischem Sinne aktiv. Vorstand des Vereins wurde der in Wimpfen am Berg wohnende ZIGARRENMACHER SIMON FUCHS. Bei ihren Wimpfener Vertretern handelte es sich vornehmlich um zugezogene und speziell das Handwerk des Zigarrendrehens und -wickelns beherrschende Fachkräfte, die ihr Metier für die Tabakfabrik teilweise in Heimarbeit ausübten. Als weitere Mitglieder könnte in Wimpfen noch der oder jene Angehörige der zahlenmäßig, da in den Reichstagswahllisten zu der umfänglichen Gruppe der „Tagelöhner“ gerechnet, nicht genau ausmachbaren kleinen Gruppe von Arbeitern der Papierfabrik dazugestoßen sein. Da die große Gruppe der „Salinarbeiter“ größtenteils einheimischen Familien entwachsen war und vielfach noch starke Bindungen an die Landwirtschaft aufwies, war diese sehr viel weniger für sozialistisches Ideengut anfällig. Dass aber auch in dieser radikales Gedankengut grassierte, geht aus dem bereits ein starkes halbes Jahrzehnt vor der Begründung dieser Arbeiter-Vereinigung von Gewalttäigkeit begleitete wilde Streik einer Gruppe solcher hervor. Dieser hat sich am 21. Oktober des Jahres 1872 abgespielt und fand in der Zeitung folgenden Niederschlag:
- Abb. F 7: Bericht des „Wimpfener Bote“ vom 17. März 1873 über die Bestrafung einer Gruppe von Wimpfener Salinenarbeitern wegen Land- und Hausfriedensbruch mit Gewalt an Personen und Sachen.
Der Wimpfener Bote fühlt sich damals bemüßigt, in der „Streikfrage“ u. a. zu raten, es „sollten die Arbeiter in ihrem eigenen Interesse vor übertriebenen Forderungen sich hüten und die Strikes nur in den alleräußersten Notfällen, wenn sich jeder Versuch einer Übereinkunft als fruchtlos erwiesen, in Scene setzen. …“
Knapp drei Monate nach den verschiedenen Gründungsversammlungen am 22. April 1877 ruft der jetzt endgültig bestehende „Arbeiter-Verein“ zu einer am nächsten Sonntag um 3 Uhr beginnenden Versammlung im Wolpert’schen Saal auf, in der dessen Statuten publiziert werden sollen und der Vorstand allgemeines Erscheinen der Mitglieder erwartet. Wie aktuell die Beschäftigung der Öffentlichkeit mit der Verbreitung der Sozialdemokratie und die daraus erwachsende Sorge des Besitzbürgertums ist, das zeigen die auf Herabsetzung, Lächerlich- und Verächtlichmachung derselben gerichteten Zeitungsmeldungen wie:
- Oktober 1876: „Ein Wort an die deutschen Arbeiter: Wir Deutschen konnten vordem stolz sein auf deutsche Arbeit, auf den guten Ruf der Gründlichkeit und Tüchtigkeit. … Den Sozialdemokraten ist es allerdings nicht angenehm, wenn der Arbeiter spart, ordentlich und strebsam ist; sie brauchen gerade zu ihren Zwecken besitzlose und ungebildete Leute, die sich leicht mit ein paar Redensarten leiten lassen und neugierig nach dem ‚Kapital’ ausschauen. … Du Deutscher Arbeiter aber, wenn Du’s redlich meinst, merke: Wer Dir sagt, man könnte auf einem anderen Wege als auf ehrlichem Fleiß, Sparsamkeit, Tüchtigkeit vorwärts kommen, zufrieden und glücklich werden, der belügt Dich!“
- Juli 1877: „Vermischtes: Merkwürdig, in Berlin sind auch Studenten unter die Sozialdemokraten gegangen oder kokettieren doch mit ihnen, vielleicht, weil das Studieren bei den Herrn Most und Kapell nicht so schwierig ist wie in den Hörsälen der Professoren und daheim bei der Lampe. … Ein Student hat sogar neulich seinen Namen unter einen sozialdemokratischen Aufruf gesetzt. Er wurde aber schnell bekehrt. Sein Vater … .“
- März 1878: „In der Lucaskirche in Berlin verschwanden in der Nacht zum 26. Februar die sämtlichen silbernen Abendmahlskelche und -kannen. Das berichtet die Berliner sozialdemokratische ‚Neue Freie Presse’ und schließt: ‚Uns wäre es unbedingt das Liebste, wenn in einer Nacht alle Kirchen mit sämtlichem Zubehör gestohlen würden. Die Menschheit hätte davon keinen Schaden.’ (Eine noch stärkere Leistung ist uns noch nicht vorgekommen. Die Red.)“
- Juli 1878: „Ein treffliches Wort über den Ursprung der in unserem Vaterland grassierenden Sozialisten-Seuche finden wir in der Magdeburger Zeitung. … .“
So ging es auf die auf den 30. Juli 1878 gelegte Wahl zum Vierten Deutschen Reichstag auch in Wimpfen zu, die notwendig geworden war, weil nach dem Attentat des Arbeiters Max Hödel auf den Kaiser dieses Jahres auf den Wunsch Bismarcks hin der im Vorjahr gewählte Reichstag aufgelöst worden war. Da der 1874 und 1877 gewählte FABRIKANT CORNELIUS HEYL sich als Kandidat der Nationalliberalen nicht mehr aufstellen lässt, tritt an dessen Stelle der am Mainzer Obergericht tätige OBERGERICHTSRAT DR. JOSEPH GÖRZ (1810 – 1900), der seit 1874 auch das Amt des Präsidenten der II. Kammer des hessischen Landtags innehat und in Wimpfen im Rathaus kurz zuvor, unterstützt vom früheren Abgeordneten VON HEYL sowie vom Vorsitzenden des Central-Wahlcomitees DR. MARX, sogar eine Wahlrede hält, die natürlich mit einem Hoch auf den Kaiser und Deutschland schließt. Nichts Direktes zu hören ist von dem wiederum für das Zentrum antretenden ARNOLD VON BIEGELEBEN und dem Tischlermeister und nunmehrigen Inhaber einer Spezereihandlung in Mannheim AUGUST DREESBACH (1844 – 1906), einem Agitator der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands, mit dem erstmals, Zeichen des Aufstiegs derselben, ein Vertreter dieser Partei im Wahlkreis Worms-Heppenheim-Wimpfen als Mitkandidat auftritt. Die wiederum im Bürgermeistereibüro von vormittags 10 Uhr bis nachmittags 6 Uhr abgehaltene Wahl bringt einen Rückgang der Wahlbeteiligung auf nur 244 von rund 600 Wahlberechtigten, d. h. auf rund 40 % gegenüber rund 85 % bzw. rund 65 % des Jahres 1874 bzw. 1877 sowie im Wahlkreis von immerhin knapp 60 %. Die Stimmenverteilung im Wahlbezirk Wimpfen bzw. Reichtags-Wahlkreis 7 sieht folgendermaßen aus:
Da Görz im Folgejahr 1879 zum Senatspräsidenten am Oberlandesgericht Darmstadt ernannt wird, muss er aus dem Reichstag ausscheiden und es tritt durch eine am 30. November erfolgte Ersatzwahl wieder CORNELIUS HEYL an dessen Stelle und als neuer Gegenkandidat des Zentrums der Darmstädter Landtagsabgeordnete HOFGERICHTSRAT EUGEN FRANK, ein in der Zeit des Kulturkampfes kritischer Gegner desselben. Trotz des Wahlaufrufes der Anhänger Heyls, die eingetretene allgemeine Lässigkeit im Wählerverhalten zu überwinden und zur Wahl zu gehen, geben im Bezirk Wimpfen von 642 Wahlberechtigten nur 163, dass sind klägliche 25 %, ihre Stimme ab, die sämtliche dem Vorgenannten gegeben werden. Dieser erhält:
Dies zeigt, dass die Anhänger des neuen „ultramontanen“ Gegenkandidaten FRANK, wohl in Erkenntnis der Aussichtslosigkeit der Chancen desselben, alle der Wahl ferngeblieben sind. Im Wahlkreis erhält VON HEYL 7.694 (rd. 80 %), demgegenüber EUGEN FRANK nur 1.845 (rd. 19 %) von 9.569 der gültigen Stimmen.
Die Gewinner der Wahl des Jahres 1878 im Reich in seiner Gesamtheit sind jedoch die beiden konservativen Parteien (Deutschkonservative und Deutsche Reichspartei) mit je 19 zugewonnenen Sitzen, während die Nationalliberalen 29 Sitze verlieren und mit nur noch 99 Sitzen nur noch knapp vor der ihre 94 betragende Sitzzahl haltenden Zentrumspartei die stärkste Fraktion bleiben. Die, wie oben dargelegt, so mächtig bekämpften Sozialdemokraten verlieren 3 Sitze und schrumpfen auf 9 Abgeordnete. Nach kaum 3 Monaten am 23. Oktober 1878 macht die Zeitung dann (in Fettdruck!) Meldung vom Ausgang der am 21. Oktober erfolgten Abstimmung über das von dem konservativen Kreis um Reichskanzler Bismarck angestrebte und letztlich denn doch auch von den Nationalliberalen befürwortete sog. Sozialisten-Gesetz, mit dem die Sozialdemokraten gesetzlich und polizeilich bekämpft werden sollen:
„Das ganze Sozialisten-Gesetz … mit 221 gegen 149 Stimmen angenommen.“
Es folgt einige Tage danach die Bekanntgabe des gesamten Gesetzes.Bezeichnenderweise lautete der genaue Wortlaut desselben „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“. Dieses hatte zunächst Gültigkeit bis zum 31. März 1881, die aber immer wieder (viermal) in erheblichen Auseinandersetzungen mit den Linksliberalen sowie den trotz wachsender Bedrängnisse von Legislaturperiode zu Legislaturperiode eine wachsende Abgeordnetenzahl erreichenden Sozialdemokraten bis 1890 verlängert wurde. In 30 Paragraphen wurden Unterverbände, Druckschriften und Versammlungen der Sozialdemokraten, namentlich der Sozialistischen Arbeiterpartei“ (SAP) und ihr nahestehendee Organisationen, vor allem die Gewerkschaften verboten. In § 1.1 hieß es: „Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten.“ Allerdings konnten deren Abgeordnete wenigstens ihre Mandate weiterhin ausüben und als Einzelpersonen für die Sozialdemokratie kandidieren. Doch wurde deren künftige Wahlvorbeitung äußerst erschwert bis unmöglich gemacht. „Es fehlte nur noch“, so weist die Zeitung auf die durch dieses Gesetz in ihren Fundamenten erschütterte Rechtsstaatlichkeit hin, „daß die sozialdemokratischen Stimmzettel als unter das Ausnahmegesetz fallende Manifestationen konfisziert wurden“.
Prompt wurde in Wimpfen von der Zeitung unter dem 26. Oktober schon die folgende „Bekanntmachung“ der Bürgermeisterei veröffentlicht: „Zufolge Verfügung Königlichen Polizei-Präsidiums Berlin vom 23. 10. 1878 ist der hiesige Zweigverein des deutschen Tabak-Arbeiter-Vereins aufgehoben, was hiermit zur allgemeinen Kenntnis gebracht wird.“ Die Begründung des Verbots lautete u. a.: „Der im Jahre 1866 errichtete ‚Deutsche Tabakarbeiter-Verein’, dessen Sitz sich gegenwärtig in Berlin befindet, umfaßt 107 Mitgliedschaften/Ortvereine. … Obwohl der Verein nach seinen Satzungen lediglich gewerblichen Bestrebungen nachgeht und politische Angelegenheiten in den Mitglieder-Versammlungen nicht behandelt werden dürfen, so hat derselbe ungeachtet dessen seit dem Jahre 1875 sich fortgesetzt mit der Erörterung politischer Angelegenheiten beschäftigt und sogar eine Kommission für öffentliche Angelegenheiten errichtet. In den vom Verein veranstalteten Versammlungen ist von den hervorragendsten sozialdemokratischen Agitatoren wiederholt und mit Erfolg für sozialdemokratische Tendenzen Propaganda gemacht worden. Das Vereins-Organ, ‚der Botschafter’, muß von den Vereinsmitgliedern statutenmäßig gehalten werden, auch in den Versammlungen ist Religion als Aberglauben bezeichnet, Neid und Haß gegen die besitzende Klasse geschürt, Achtung vor den Gesetzen erschüttert, für Umbildung des Staates nach sozialistischen Ideen geworben worden … .“ Damit war die Wimpfener Zelle sozialdemokratischer Denk- und Handlungsart nach außen hin ausgeschaltet, doch nicht gebannt, sondern in den Untergrund getrieben. Über die ehemaligen Mitglieder des Vereins wird nach dessen Verbot allerdings übertreibend behördlicherseits gesagt, diese hätten alle Wimpfen verlassen.
Im Sommer des Folgejahres 1879 wurde, nachdem Bismarck gezwungenermaßen einen Schwenk vom eher liberalen zum konservativen Lager hin vollzogen sowie die Aufgabe des Kulturkampfes und so seinem Ausspruch des Jahres 1872 im Reichstag „Nach Canossa gehen wir nicht!“ zuwidergehandelt hatte, hauptsächlich mit den Stimmen der Konservativen und des ebenfalls überwiegend schutzzöllnerisch eingestellten Zentrums die Einführung bzw. Erhöhung von Schutzzöllen beschlossen. Dieses war von den „im Bündnis aus Roggen und Eisen“ oder von „Krautjunkern und Schlotbaronen“ vereinten Interessengruppen von Großagrariern und Industriellen gefordert und dürfte im bäuerlich dominierten Wimpfen im Hinblick auf die dadurch erwarteten steigenden Getreidepreise eher begrüßt worden sein. Bismarcks Abkehr von den freihändlerisch eingestellten Liberalen geschah nicht zuletzt im Hinblick auf die in Deutschland nach dem 1870/71er Krieg insbesondere durch das Hereinfließen der 5 Milliarden Kriegsentschädigung aus Frankreich überzogenen Industrie- und sonstigen Geschäftsgründungen (Banken, Aktiengesellschaften, Spekulationsunternehmen), der sog. Gründerzeit mit überhitzter Konjunktur der Unternehmensgründungen, der 1873 der „Gründerkrach“ mit schweren Kursstürzen und einer langjährigen wirtschaftlichen Depressionsphase mit starken Schwankungen, einer Welle von Geschäftsaufgaben, Insolvenzen, wachsendem Notleiden der von der Konkurrenz durch Fabrikwaren ihren Absatz verlierenden Handwerker, Überproduktion, Arbeitslosigkeit, Existentznot, Wiederansteigen der Auswanderung, Zunahme der Bettler und der Selbstmordrate u. a. m. folgte. Welch breiten konkreten Niederschlag dieser Zustand in Wimpfen fand, wird im Kapitel H ausführlich zur Sprache kommen. Im Folgejahr 1880 dreht sich die in der „Wimpfener Zeitung“ immer breiter werdende politische Diskussion über die Folgen dieser jetzt betriebenen Schutzzollpolitik und der sich u. a. daraus ergebenden Staatseinnahmen hinaus ganz besonders um die Kriktik an der von allen europäischen Staaten mit dem Argument der Erhaltung des Friedens unter den Völkern Europas für notwendig befundenen ständigen Kriegsbereitschaft, die in die Forderung eines „Friedenstrakates europäischen Charakters“ nach dem Muster der „Heiligen Allianz“ des Jahres 1815 mündet. Ausgelöst wurde diese Kritik nach dem von Bismarck im Sommer 1878 erwirkten „Berliner Kongress“, wodurch dieser zwar die Sympathie Großbritanniens durch seine Rolle des „ehrlichen Maklers“ und „Fuhrmann Europas“ im Interessenkonflikt auf dem Balkan zwischen Österreich und Russland erringen konnte, aber das 1872 geschlossene „Dreikaiserbündnis“ zwischen dem Deutschen Reich-Russland-Österreich/Ungarn preisgeben musste und 1879 zunächst lediglich einen „Zweibund“ mit Österreich zustandebrachte.
Der hintersinnige Titel, den die folgenden unter dem 3. März 1880 in der „Wimpfener Zeitung“ abgedruckten Reimstrophen führen, lässt die Sorge spüren, mit der damalige kritische Zeitgenossen die hohen Aufwendungen für das Militärwesen und dessen Aufstockung wahrnehmen und das ahnen, was schließlich zu einem Wettrüsten führen und 3½ Jahrzehnte später den Ersten Weltkrieg heraufbeschwören sollte:
„Die bösen Folgen des Berliner Friedens machen sich nun bald fühlbar“, so stellt die Zeitung zwei Monate zuvor kritisch fest. „Daher sehen die Russen nun wohl mit Recht die Ursache ihres Mißerfolges im Verhalten des deutschen Reichskanzlers und die Folge war jene Spannung in den wechselseitigen Beziehungen, welche wiederholt die Möglichkeit eines deutsch-russischen Kriege nahelegte. … Auf das drohende Verhalten der russischen Diplomatie antwortete Fürst Bismarck mit dem deutsch-österreichischen Bunde. In Deutschland war dieses Ereignis allgemein mit Freuden begrüßt worden, aber es ist doch nur ein schwacher Trost bei der bedrohlichen Konstellation der europäischen Verhältnisse, die uns mehr und mehr in die ausgesprochene Militärdiktatur hineintreiben. … Wir werden in der Tat sagen können, daß die Deutschen ein Volk in Waffen sind, daß Deutschland zur großen Kaserne geworden.“
Nachdem Bismarck dann 1882 durch den Beitritt Italiens den „Zweibund“ mit Österreich zum „Dreibund“ erweitern konnte, preist die „Wimpfener Zeitung“ unter dem 26. Oktober 1888 dieses Bündnis durch den Abdruck des folgenden dreistrophigen weiteren Reimwerks:
Als am 27. Oktober 1881 die Wahl zum Fünften Deutschen Reichstag ansteht, finden – wie damals in vielen Städten – vor Ort zwei mit Eifer betriebene Reichstags-Wahlversammlungen statt. Deren eine wird von RECHTSANWALT DR. EBNER aus Frankfurt a. M. für die linksliberal orientierte Deutsche Fortschrittspartei und deren andere von DR. JUR. ADALBERT FALK, dem scharfen Gegner der „Ultramontanen“ und preußischen Kultusminister sowie Kandidaten der Nationalliberalen, abgehalten und es stehen sich jetzt die vorgenannten beiden Parteien gegenüber. Außer den Genannten kandidiert im Wahlkreis Worms-Heppenheim-Wimpfen wieder für die Zentrumspartei (ZP) HOFGERICHTSRAT EUGEN FRANK. Nach eifrigem Wahlkampf fallen im Bezirk Wimpfen bei 665 Wahlberechtigten 253 Stimmen DR. EBNER (DFP) zu, womit im Wahlbezirk Wimpfen zum ersten Mal ein Linksliberaler vorne liegt, während DR. FALK (NLP) mit 127 und EUGEN FRANK (ZP) mit nur 7 Stimmen das Nachsehen haben. Die Wahlbeteiligung ist somit immerhin wieder auf 58 % gestiegen. Im Wahlkreis, wo in Anbetracht von 20.383 Wahlberechtigten und 13.218 abgegebenen Stimmen eine Wahlbeteilgung von knapp 65 % erreicht wird, kann jedoch der NATIONALLIBERALE DR. FALK mit 6.474 Stimmen die, allerdings nur einfache, Mehrheit erringen, während der ZENTRUMSMANN FRANK nur 3.699 und der FORTSCHRITTLER DR. EBNER nur 3.024 Stimmen erreichen. Bei der notwendigen Stichwahl zwischen Dr. FALK und E. FRANK setzt sich der Erstgenannte sowohl in Wimpfen mit 157 gegenüber dem Zweitgenannten mit nur 76 Stimmen (bei insgesamt jetzt nur 234, d. h. nur noch 35 % der abgegebenen Stimmen) als auch im Wahlkreis mit 8.462 gegenüber 5.954 Stimmen bei einer Wahlbeteilgung von sogar fast 71 % durch.
Da DR. FALK jedoch wegen seiner Wiederwahl auch in seinem alten Wahlkreis Lüben-Bunzlau (Schlesien) die Annahme der Wahl ablehnt, kommt es am 25. November 1881 zu einer Ersatzwahl, bei der als neuer Kandidat der NLP der hochkarätige Jurist und der vordere Kopf der Nationalliberalen PROFESSOR DR. JUR. HEINRICH MARQUARDSEN (1826 – 1897), seit 1871 Mitglied des Reichstags und seit 1878 Vorstandsmitglied der nationalliberalen Reichtagsfraktion, kandidiert und auch in Wimpfens größtem Saal des „Ritter“ eine Wahlrede hält. Die Zeitung wirbt für den Besuch dieser Veranstaltung folgendermaßen: Es werden, um Störungen zu vermeiden, keine Getränke gereicht und es soll beim Besuch einfache Kleidung getragen werden. Und: „Die Stadt bietet bei ihrer Lage selten Gelegenheit, derartige Vorträge zu hören.“ Es werden auch Leute der Gegenpartei zur Teilnahme aufgefordert. Der Redner versichert u. a., „die Bürger des Reiches nicht bloß durch genügende Wehrkraft nach außen zu schützen, … sondern auch durch Gesetze und Einrichtungen bessere Fürsorge zu treffen für solche Bürger des Reichs, die als verunglückte oder arbeitsunfähige Arbeiter besonderer Fürsorge bedürfen. Ganz deutlich wurde damit den erhabenen und zugleich so väterlichen sorgenden Gedanken des Kaisers in seiner Thronrede an den Reichstag entsprochen. …“. Damit ist angesprochen, was REICHSKANZLER OTTO VON BISMARCK im Laufe der 1880er Jahre als Hauptmittel im Kampf gegen die als Hauptfeind des Reiches betrachteten und jetzt an Stelle der „Ultramontanen“ bekämpften Sozialdemokraten ins Feld führt, nämlich: die (an späterer Stelle behandelte) Schaffung der sog. Sozialgesetzgebung in Gestalt der Krankenversicherung (beschlossen 1883), der Unfallversicherung (beschlossen 1884) sowie der Alters- und Invalidenversicherung (beschlossen 1889). Doch wählen die Wimpfener bei dieser Nachwahl mehrheitlich wieder mit 290 von abgegebenen 386 Stimmen DR. EBNER, den Kandidaten der DFP, und liegen damit im allgemeinen Trend, welcher dessen Partei im Reich einen Sprung aufwärts von 34 auf 60 Sitze beschert, während DR. MARQUARDSEN als Vertreter der NLP nur 96 Stimmen zufallen (Wahlbeteiligung immerhin wiederum rund 58 %). Im Wahlkreis siegt der Letztgenannte erwartungsgemäß jedoch mit 7.350 (knapp 60 %) gegenüber 4.946 (stark 40 %) und so mit einer Mehrheit von rund 2.350 Stimmen (Wahlbeteiligung rund 61 %), wodurch dort nach wie vor die NLP bestimmend bleibt, obgleich diese im Reich 52 Sitze verliert, somit nur noch 47 Sitze erreicht und vom ersten auf den dritten Platz hinter der DFP (60 Sitze) und der nunmehr erstmals die Spitze einnehmenden ZP (100 Sitze) zurückfällt.
Am 6. Juni 1883 meldet die Zeitung, dass am letzten Maitag im Reichstag das Krankenversicherungsgesetz mit großer Mehrheit angenommen sei, das als „ein wichtiger Teil der sozialen Reformen für die arbeitenden Klassen“ gelte. Doch hätten „die Secessionisten (gemeint: jene Mitglieder der Nationalliberalen Partei, die 1880 aus derselben ausgeschieden waren, sich als „Liberale Vereinigung“ konstituiert hatten und sich schließlich 1884 mit der „Fortschrittspartei“ zur „Deutschen Freisinnigen Partei“ vereinigten) und die Sozialdemokraten“ die Zustimmung verweigert, weil ihnen die Bestimmungen des Gesetzes nicht genügten. Und unter dem 30. März des Folgejahres 1884 druckt die Zeitung die umfängliche Erklärung von REICHSKANZLER BISMARCK zur ins Auge gefassten Verabschiedung des Unfallversicherungs-Gesetzes ab, das schließlich zum 1. Oktober 1885 in Kraft tritt: „Die Hauptbeschwerde des Arbeiters ist die Unsicherheit seiner Existenz: Er ist nicht sicher, daß er immer gesund ist, und sieht voraus, daß er einmal alt und arbeitsunfähig sein wird. Versäumt er aber die Arbeit auch nur durch längere Krankheit, so ist er nach seiner eigenen Kraft vollständig hilflos und die Gesellschaft erkennt ihm gegenüber bisher eine eigentliche Verpflichtung außer der ordinären Armenpflege nicht an, auch wenn er noch so treu und fleißig vorher gearbeitet hat. Die Armenpflege läßt aber sehr zu wünschen übrig, namentlich in den großen Städten, wo sie viel schlechter als auf dem Lande ist. Wenn wir in Berliner Blättern lesen von Selbstmord aus Nahrungssorgen, von Leuten, die Hungers gestorben sind und sich aufgehängt haben, weil sie nichts zu essen gehabt haben, von Leuten, die in den Zeitungen ankündigten, sie wären obdachlos hinausgeworfen worden und hätten kein Unterkommen, so sind das lauter Dinge, die wir auf dem Lande nicht verstehen. Da würde sofort der Landrat und die Polizei erscheinen und den Hinausgeworfenen wieder einsetzen und den Hungernden durch Exekution zu Speise und Trank verhelfen. Der Arbeiter ist wegen dieser Unsicherheit feindselig und mißtrauisch gegen die Gesellschaft. So lange ihm der Staat nicht entgegenkommt oder so lange er zu dem Entgegenkommen des Staates kein Vertrauen hat, so lange wird er immer wieder zu dem sozialistischen Wunderdoktor laufen und ohne großes Nachdenken sich von ihm Dinge versprechen lassen, die nicht gehalten werden. Deshalb glaube ich, daß die Unfallversicherung, sobald sie namentlich ihre volle Ausdehnung auf die gesamte Landwirtschaft, auf die Baugewerbe usw. bekommt, wie wir das anstreben, mildernd auf die Besorgnis und Verstimmung der arbeitenden Klassen wirken wird. Ganz heilbar ist die Krankheit nicht, aber durch Unterdrückung äußerer Symptome derselben, durch Zwangsgesetze halten wir sie nur auf und treiben sie nach innen.“
Wenig später Mitte Mai 1884 zitiert die Zeitung die Argumentation OTTO VON BISMARCKS im Reichstag bezüglich der von ihm angestrebten weiteren Verlängerung des Sozialistengesetzes, das dieser erst dann für nicht mehr notwendig findet, wenn die in Angriff genommene soziale Gesetzgebung vollendet ist: „Das Sozialistengesetz solle weder von ewiger, noch von kurzer Dauer sein: Geben Sie dem Arbeiter Brot, d. h. Arbeit, so lange er gesund ist; Unterstützung, wenn er krank ist. Versorgen Sie ihn, wenn er alt oder invalid geworden, erst dann werden unsere Ausnahmegesetze unnötig geworden sein. Wenn der Staat und die gesetzlichen Körperschaften etwas mehr für die arbeitenden Klassen tun, so wird der Arbeiter, wenn er sieht, daß es uns mit den Bemühungen um sein Wohl ernst ist, die sozialdemokratischen Lehren verleugnen.“
Die vorgenannten Berichte der „Wimpfener Zeitung“ lassen erkennen, dass deren Berichterstattung der 1880er Jahre wachsend und umfänglich der Reichspolitik zugewandt ist und dem jetzt zunehmend den Reichstagswahlen vor Ort hauptsächlich in Form von Wahlreden vorausgehenden Wahlagitation breiten Raum gibt. Letzteres dokumentiert sich ganz besonders, als die auf den 28. Oktober 1884 gelegte Wahl zum Sechsten Deutschen Reichstag ansteht und anderthalb Wochen zuvor die Zeitung ihre Leser darauf hinweist, sie sei, wie aus ihrem Titel ersichtlich, kein Parteiblatt, sondern „ein allgemeines Anzeigenblatt, dessen Inseratenteil jeder Partei mit gleichen Rechten offensteht, ebenso wie auch im lokalen Teil, so weit gewisse Grenzen eingehalten sind, Besprechungen Aufnahme finden“. So geschieht es, dass sich die lebhafte, freilich nur von den Anhängern des abermals kandidierenden Abgeordneten der Nationalliberalen Partei (NLP) DR. MARQUARDSEN geführte, Wahlagitation ausführlichst dokumentiert und somit ein getreues Spiegelbild der damaligen innen- und außenpolitischen Bestrebungen BISMARCKS sowie seiner Widersacher gegeben ist. Hierzu die geraffte Wiedergabe:
– 16. Oktober 1884 – Eingesandt: In der Brauerei zum Deutschen Kaiser versammelten sich „eine Anzahl, nationalliberal gesinnter Männer zu einer Vorbesprechung … und einigten sich dahin, mit aller Energie für die Wiederwahl des seitherigen Vertreters des Kreises Worms-Heppenheim-Wimpfen, Herrn Dr. Marquardsen, Professor an der Universität Erlangen, zu wirken.“ Es wurde zu diesem Zweck ein Comitée gewählt und beschlossen, Sonntag, den 19. , im Saale zum Ritter eine Wahlversammlung zu halten, um „diesen Mann von echtem Schrot und Korn, der seit vielen Jahren sich opferwillig in den Dienst des Volkes gestellt“, zu unterstützen.
– 19. Oktober 1884 – Eingesandt: Dieser Einladung folgend, versammeln sich am genannten Sonntag im Ritter viele Wähler. Nach Eröffnung der Versammlung durch den (uns schon durch sein Reden und Werben für „Kaiser und Reich“ in den Sedan-, Gravelotte- und Kaiserfeiern bekannt gewordenen) VORSITZENDEN DES TURNVEREINS KLEYER, hält in Vertretung des „geschäftlich verhinderten“ Kandidaten BÜRGERMEISTER KÜCHLER AUS WORMS einen „äußerst ansprechenden und von wiederholten Beifallsbezeugungen der Anwesenden begleiteten“ Vortrag: Dieser hebt in seinem Anfangsteil gezielt darauf ab, die linksliberale „Deutsche Fortschrittspartei“ bzw. die aus deren vor kurzem erfolgten Zusammenschluss mit der „Liberalen Vereinigung“ hervorgegangene „Deutsche Freisinnige Partei“ (DFP) als Gegner des bestehenden Systems der Gleichstellung von Regierung und Volksvertretung und Verfechter des parlamentarischen (= demokratischen) Systems der Unterstellung der Regierung gegenüber der Volksvertretung darzustellen und somit gegenüber der „Nationlliberalen Partei“ (NLP) deutlichst abzugrenzen. Hier nur das letzte in der Kette der diesbezüglichen Argumente: „Ferner wies der Redner auf die Früchte hin, welche die parlamentarische Regierungsform in Frankreich zu Tage gefördert habe, wo sich z. B. die Kriegsminister so rasch folgten, daß keiner seine Pläne hätte ausführen können.“ Übergehend zur Militärfrage, wandte er sich gegen die von der DFP angestrebte Auflösung des 1884 und 1880 beschlossenen sog. Septenats, wonach der zwei Drittel bis drei Viertel des Gesamthaushaltes betragende Wehretat nur alle sieben Jahre neu beschlossen werden musste. „Wenn, wie diese Parteien es wünschten, das Septenat abgeschafft würde, dann würde bei jeder Reichstagswahl die Frage in den Vordergrund gerückt sein und die einheitliche Ausbildung käme in Frage. … Die Militärfrage sei überhaupt auch schon derartig aufgebauscht worden, daß der Militarismus bei uns zum Axiom geworden sei. Eine Vergleichung des Budgets mit der unserer Nachbarstaaten führe indeß zu dem Resultate, daß wir eine Militärlast zu tragen haben, die im Verhältnis gering zu nennen sei. In Deutschland seie aufzubringen für Militärzwecke pro Kopf 8,59 Mark, in Frankreich 16,62 Mark, in England, dessen Söldnertruppen zu den schlechtesten gehörten, 14,81 Mark. … Sodann erging sich der Redner des Näheren über die dreijährige Dienstzeit und hub hervor, daß wir bei nur zweijähriger Dienstzeit hätten 1) einen Jahrgang unausgebildeter Rekruten, 2) nur einen völlig ausgebildeten Jahrgang, … also im Falle eines Krieges, wo die Hauptschlachten geschlagen werden, durchaus nicht genügend Truppen zur Verfügung, und eine verlorene Schlacht würde uns das dadurch Ersparte auf 100 Jahre hinaus wieder entreißen, gegenwärtig dürfe also an eine Herabminderung der Dienstjahre nicht gedacht werden.“ Nun auf das Sozialistengesetz kommend, sprach sich der Redner für dessen wieder anstehende Verlängerung aus: Es „müßten entschieden mechanische Repressalien zur Verhinderung der Hetzereien vorhanden sein; denn es hieße töricht handeln, wollte man eine Partei, deren Endzweck der Umsturz alles Bestehenden sei, frei walten lassen.“ – „Freilich verkennt auch der Redner nicht“, so fährt der Berichterstatter, auf die nun angesprochene Sozialgesetzgebung kommend, fort, „den berechtigten Kern des vernünftigen Sozialismus und die Erklärung dafür sei in dem colossalen Umschwung und Aufschwung unserer Industrie … zu suchen. Doch auch hier habe sich wieder unser großer Kanzler bewährt durch Schaffung des Unfall- und Krankenversicherungsgesetzes, von deren versicherlichen Wirkungen der Redner alles Gute hofft. Dieser Weg, den die Gesetzgebung eingeschlagen, würde ein Wendepunkt sein, nicht allein für Deutschland, sondern auch für Europa, und nach 100 Jahren werde man die so kleinlichen nörgelnden Menschen kaum begreifen können, die so viele Hindernisse machten. Auch über das Umlage- und Deckungsverfahren sprach sich Herr Küchler aus, indem er sich für das erste entschied und überzeugend nachwies, daß es das einzige Naturgemäße sei.“ Im Fortgang sprach sich der Redner für die im Reichstag heftig umstrittene sog. Dampfersubventionsvorlage über die Errichtung von Post-Dampf-Schifffahrtsverbindungen mit überseeischen Ländern (Ostasien, Australien, Afrika) aus, die der staatlichen Subventionierung von Transportmitteln zur Erschließung neuer möglicher Territorien, sprich Kolonien, im Auge hatte. „Der Redner führt ein Artikel aus der Zeitung in Capetown (Kapstadt) an, worin unser Angra Pequena als sehr kupferreich geschildert und bedauert wird, daß die Engländer sich diese Annectierung hätten entgehen lassen. … Die Dampfersubvention mache allerdings neue Steuern nötig, die aber ganz gut aufzubringen wären durch eine Börsensteuer. Bisher habe sich das mobile Kapital der Besteuerung zu entziehen gewußt, was das größte Unrecht sei. … Ein Bauer, der seinen Acker verkaufe, müsse 2 – 3 % seines Wertes in Stempeln und Kosten zahlen, und der Bankier, der an der Börse Millionen unzusetzen gewohnt ist, zahle nur wenige Pfennige, ein schreiendes Missverhältnis. … Er erkennt die Klagen der Landwirtschaft als berechtigt an und findet, daß bei uns die Produktionskosten für manche landwirtschaftlichen Produkte derart groß seien, daß wir durchaus nicht auf unseren heimischen Märkten mit dem Auslande concurrieren könnten. Ein Ztr. Getreide koste an Transpert von Odessa bis zu uns 25 Pf., der Eingangszoll 50 Pf., während bei uns die Grundsteuer das Doppelte und Dreifache betrage, eine Steuer, die noch direkt auf den Consumenten abgewälzt werde. Warum sage man denn nicht, die Grundsteuer verteure das Brot des armen Mannes, sondern die Zölle. Daß übrigens die auf ausländisches Getreide im Jahre 1878 gelegten Zölle das Brot verteuert hätten, sei durch Erfahrung längst widerlegt und auch gegnerischerseits zugegeben. Beim Getreidehandel träten eben Konjunkturen ein, die derartige Verhältnisse außer Acht ließen. Der Getreidehandel müsse in Deutschland immer mehr das Rückgrat einer gesunden Landwirtschaft bilden, man könne doch nicht lauter Gemüse bauen. Huldigten wir dem Freihandel, so kämen wir in kurzer Zeit zu der Latifundienwirtschaft, wie sie sich in England in der Aera des Freihandels ausgewirkt habe und dann wehe unserem Mittelstande. …“ – Obgleich der „mit reichem Beifall“ belohnte Vortrag als „lehrreich und überzeugend“ gelobt wird, gibt es, was die Zuhörerschaft betrifft, die folgende Kritik:
– 24. Oktober 1884 – Einsendung „Wahlsache betreffend“: Es sollten auch Leute der Gegenpartei überzeugt werden. Dazu sei das Wählerauditorium, dessen nationale Gesinnung ohne allen Zweifel stehe, eine viel zu exklusive Versammlung mit aristokratischer Air und dadurch nicht geeignet gewesen, auch Leute der Gegenpartei überzeugen und der maulwurfsartigen Unterwühlungsarbeit der Fortschrittler entgegentreten zu können.- Schließlich ergeht kurz vor der Wahl seitens des Comitées noch der folgende Aufruf, der das bisherige Wirken des nationalliberalen Abgeordneten preist und an die Wählerschaft appelliert, diesen wiederzuwählen und ihrer „Pflicht“, zur Wahl zu gehen, nachzukommen:
– 26. Oktober 1884 – Wahlaufruf: „Mitbürger! Der Tag der Wahl zum Reichstag naht. Wir bitten Euch, unseren seitherigen treubewährten Abgeordneten Prof. Dr. Marquardsen wieder zu wählen: M. ist ein echt national gesinnter Mann, … ist eine große Arbeitskraft im Reichstag, an den wichtigsten Gesetzen hat er in den Commissionen gearbeitet. Die Gesetze über die Kranken- und Unfallversicherung der Arbeiter sind mit seiner Hilfe zu Stande gekommen, immer hat er dem wahren Fortschritt gehuldigt, er hat mit seinen Freunden das deutsche Reich aufbauen und einrichten helfen und will dasselbe auch sowie den dem Vaterland so teuren Frieden durch Bewilligung der nötigen Mittel für unser tapferes Leben erhalten. M. ist immer bereit, die Rechte und Freiheiten des Volkes zu verteidigen, tritt für die Hebung der Industrie, des Handels und der Landwirtschaft mit aller Kraft ein, wie er die Dampfer-Subvention und Colonialpolitik verteidigte, so wird er für die Erhöhung der Kornzölle stimmen und ebenso für die Minderung der allzuhohen Gerichtskosten und Advokatengebühren eintreten. Mitbürger erfüllt eure Pflicht Dienstag, den 28. ds. M., seid nicht lässig und wählt Prof. Marquardsen, Wimpfen, Das Comité.“
Zwar erringt PROF. DR. MARQUARDSEN (Nationalliberale Partei) einen eindeutigen Sieg sowohl im Bezirk Wimpfen mit 191 Stimmen gegenüber dem – wie schon 1879 und 1881 – kandidierenden HOFGERICHTSRATSRAT FRANK (Zentrum) mit (wie die Chronik der Evangelischen Kirchengemeinde vermeldet „nur“) 14 Stimmen als auch im Reichstagswahlkreis mit 6.640 gegenüber 4.717 Stimmen. In Anbetracht von 668 bzw. 20.897 Wahlberechtigten beträgt die Wahlbeteiligung nur 30,7 Prozent bzw. 49,6 Prozent, womit die des Gesamtreiches von knapp über 60 Prozent bei weitem unterschritten wird. Der für die SPD kandidierende PHILIPP MÜLLER tritt in Wimpfen (es besteht ja wegen des immer noch geltenden Sozialistengesetzes für solche Kandidaten Redeverbot) gar nicht in Erscheinung und erhält im Wahlkreis nur 205 Stimmen (1,8 %). Der Hauptgrund für die geringe Wahlbeteiligung dürfte darin liegen, dass die Anhänger der linksliberalen Parteien, nämlich die der so hart angegangenen Deutsch-Freisinnigen und die der Deutschen Volkspartei, ebenso die der Sozialdemokraten wegen deren geringeren oder fehlenden Wahlchancen der Wahl ferngeblieben sind. Wieder hält im Reichstag das Zentrum mit 99 Sitzen vor der durch Zusammenschluss der Deutschen Fortschrittspartei und Deutschen Volkspartei entstandenen Deutsch-Freisinnigen Partei mit 67 Sitzen die Spitze und stehen die Nationallibertalen mit 51 Sitzen wieder nur an dritter Stelle.
Zum besseren Verständnis der von Bürgermeister Küchler in seiner Wahlrede über den Erwerb von Angra-Pequena gemachten Äußerungen muss man wissen, dass damals REICHSKANZLER BISMARCK, um den Forderungen der Konservativern und Nationalliberalen entgegenzukommen, auf dem Wege war, seinen zur Vermeidung von Konfrontationen mit den europäischen Kolonialmächten (insbesondere England) gezeigten generellen Widerstand gegen den Erwerb von Kolonien (1881: „Solange ich Reichskanzler bin, treiben wir keine Kolonialpolitik“) einzuschränken. Etwa anderthalb Jahre zuvor, ausgangs September 1882, hatte eine umfängliche politische Betrachtung in der Wimpfener Zeitung unter dem bezeichneten Titel „Eine nationale Frage“ die folgende tadelnde Feststellung getroffen und Weisung daraus abgeleitet: „Kein Volk der Erde sendet mehr Colonisten in fremde Länder hinaus als das deutsche, keine Nation erscheint, was die Begabung der Individuen anbetrifft, besser zur Colonisation beanlagt als das deutsche und kein Volk wie das deutsche ist infolge der starken Vermehrung angewiesen, die überschüssige Bevölkerung durch Auswanderung in fremde Länder abzugeben. Aber trotz dieser Tatsachen und des ferneren Umstandes, daß bereits mehr als 10 Millionen Deutsche im Laufe der Jahre die Colonialländer Amerikas, Australiens und Afrikas bevölkert haben und daß ferner deutsche Forscher an der Entdeckung und Kenntnis früher unbekannter Erdstriche den ruhmvollsten Anteil haben, steht das deutsche Reich vor der traurigen Wahrheit, keinen Fußbreit Colonialland zu besitzen und jährlich durch Auswanderung enorme, unwiederbringliche Verluste an seinem nationalen Vermögen zu erleiden und ist nicht in der Lage wie England, Frankreich und Holland, seine Auswanderung nach eigenen Colonien zu leiten und durch seine Kolonisten neue Kräfte und Reichtümer sammeln zu lassen. Rechnet man nun noch diesen Schattenseiten den von Jahrzehnt zu Jahrzehmt wachsenden Wettkampf der Nationen auf allen Gebieten des Weltmarktes und zieht man die Wahrscheinlichkeit in Erwägung, daß Länder mit großem Colonialbesitz mit fortschreitender Kultur derselben schließlich ein großes Übergerwicht über diejenigen Staaten, welche keine Kolonien besitzen, erlangen müssen, so muß uns die Angelegenheit unserer massenhaften Auswanderung bei vollständigem Mangel an Kolonialländern als eine nationale Frage erscheinen, zumal wenn man dabei die rapide Vermehrung der Bevölkerung noch in Berücksichtigung zieht. Als ein sehr erfreuliches Symptom begrüßen wir es daher, daß in allen einflußreichen deutschen Kreisen das Interesse für alle auf Kolonisation und Nutzbarmachung der Auswanderung für das Mutterland bezüglichen Fragen im steten Wachstum begriffen ist und daß sich seit einiger Zeit unter der Teilnahme hervorragender Männer ein deutscher Kolonialverein mit dem Sitz in Frankfurt am Main gebildet hat. … Eine fruchtbringende Lösung ist also nun unter staatlicher und nationaler Beihilfe für Deutschland möglich.“
In der Tat war kurz vor der oben angesprochenen 6. Reichtagswahl am 7. August 1884 das vom Bremer Großaufmann ADOLF LÜDERITZ im Blick vor allem auf dessen Kupferreichtum erworbene Land Angra-Pequena (später Lüderitzbucht) mit den anschließenden Gebieten durch Entsendung von zwei Kriegsschiffen und Fahnenhissung unter den Schutz des Deutschen Reiches gestellt und damit die Anfänge der Kolonie Deutsch-Südwestafrika (heute: Namibia) geschaffen worden. Und wenige Monate davor war die sog. Unterschutzstellung der vom Hamburger Überseekaufmann und nationalliberalen Reichstagsabgeordneten ADOLPH WOERMMANN in Westafrika erworbenen anderen Gebiete in Kamerun und Togo , Letzteres heute: Ghana, erfolgt, was in der Zeitung unter dem 19. Oktober 1884 durch die folgende Meldung bekanntgemacht wurde: „Unter dem 19. 5. 1884 ordnete der Reichskanzler durch eine Instruction an den General-Consul Nachtigal die Durchführung der von Hamburg empfohlenen Politik an, bestimmte, daß der Schutz der Deutschen und ihres Verkehrs in den dortigen Küstengebieten im Namen des Reichs unmittelbar übernommen wurde. Das energische Auftreten und Eingreifen Deutschlands brachte bald erwünschte Folgen. Die Negerhäuptlinge baten um den Schutz des deutschen Kaisers. … Mit Mlapa, König von Togo, wurde ein Vertrag geschlossen.“ Dass das Reich jedoch zum Erwerb von Kolonien letztlich auch die Anwendung kriegerischer Mittel nicht scheute, das zeigt der Umstand, dass auf dem Talmarkt des Jahres 1885 durch „Klings Kunstausstellung“ dem sensationshungrigen Publikum „Der erste Sieg der deutschen Marinetruppen in Kamerun in Westafrika am 20., 21. und 22. 1884 als Neuestes, was Zeit und Weltereigenisse im abgelaufenen Jahr brachten“, vorgeführt wurde. Im gleichen Jahr kam der nordöstliche Teil der Insel Neuguinea in deutschen Besitz und erhielt den Namen Deutsch-Neuguinea oder auch Kaiser-Wilhelms-Land, dazu die sich anschließende melanesische Inselgruppe unter dem Namen Bismarckarchipel. 1885 erhielt die Kolonialgesellschaft des Deutschen CARL PETERS für das ostafrikanische Gebiet gegenüber der Insel Sansibar einen Schutzbrief des Deutschen Reiches und 1890 übernahm nach einem Aufstand der Küstenbevölkerung das Deutsche Reich direkt die Regierung des nun zu Deutsch-Ostafrika werdenden Landes. Das nunmehr in der Öffentlichkeit entstandene Interesse an der Erwerbung von Kolonien und der jeweiligen besonderen Eigenart zeigt sich z. B. darin, dass PFARRER PETERSEN Mitte März 1885 einen Vortrag über die Berufung Deutschlands und der Christenheit in Afrika hält, oder Mitte Februar 1886 die Zeitung meldet, dass soeben im Kölner Musikverlag Tonger das Orchesterstück die „Kameruner Wachtparade“ erschienen sei. 1888/89 finden sich in der Zeitung laufend Artikel über Kolonialfragen, so z. B. auch über die 1889 in Berlin ausgehandelten britisch-amerikanisch-deutschen Vertrag der gemeinsamen Schutzrechte über die Samoainseln im Zentrum des Pazifik.
Mitte November 1884 teilt die Zeitung mit: „Am 1. 12. 1884 tritt das Reichsgesetz über die Krankenversicherung der Arbeiter ins Leben“ und gibt dazu den folgenden einleitenden positiven Kommentar: „Wenn auch hier und da den Wirkungen des Gesetzes mit Mißtrauen entgegengesehen wird, so dürfte die Praxis jedoch sehr bald eine andere Anschauung zur Geltung bringen; es wird nur darauf ankommen, daß sich die beteiligten Personen zunächst mit den hauptsächlichsten Bestimmungen des Gesetzes vertraut machen und dadurch in Stand gesetzt werden, durch pünktliche Ausführung derselben die Ausführungen des Gesetzes zu erleichtern und sich selbst vor Unannehmlichkeiten und Nachteilen zu bewahren.“ Die danach in der Zeitung erfolgende Darlegung und laufende Kommentierung der diesbezüglichen Gesetzesbestimmungen sowie deren segensreiches Wirksamwerden auch in Wimpfen bleibt der ausführlichen Darlegung im Kapitel J vorbehalten.
Nun wieder auf die Bismarck-Verehrung zurückkommend, stoßen wir am 15. Februar 1885 ff. auf die folgenden Zeitungsmeldungen: „Für Wimpfen hat sich ein Lokalcomitée zur Empfangnahme von Beiträgen der überall gesammelten Ehrengabe zum 70. Geburtstage des Fürsten Bismarck gebildet und liegen Listen zur Zeichnung in den Lokalen des Gasthofs zum Ritter, der Bierbrauerei Gläßer, … auf.“ Im Fortgang wendet sich die Zeitung gegen das weit verbreitete Missverständnis, die Ehrengabe sei eine Dotation und diene nur dazu, den Reichskanzler „reicher zu machen“ oder der Abrundung seiner Güter (Anmerkung: Mit „seiner Güter“ sind gemeint das 1867 von Bismarck gekaufte Dorfgut Varzin in Hinterpommern und insbesondere der diesem 1871 in Anerkennung seiner Verdienste vom Kaiser geschenkte Sachsenwald bei Hamburg). Vielmehr werde eine dauernde und gemeinnützige Stiftung errichtet, die dem ganzen Volk und Reich zugute komme. Es werde diesem überlassen, in diesem Sinne Bestes zu treffen. Es gehen insgesamt 76,55 Mark ein, die an die Zentralstelle nach Berlin abgeschickt werden. „Das Wahrscheinliche ist“, so wird jetzt ergänzend mitgeteilt, „daß von der Summe eine Anstalt errichtet wird, in welcher invalid gewordene Arbeiter Unterkommen und Versorgung finden. Das ist im Sinne Bismarcks und ein Beitrag zur Lösung der sozialen Frage.“ Später heißt es, dass die Bismarck-Spende z. B. zur Unterstützung junger Männer Verwendung finde, die sich dem Studium des höheren Lehrfaches zuwenden. In Heilbronn dagegen[36] verlautet, die Spende diene der Erwerbung dessen früher besessenen Stammguts und Geburtsorts Schönhausen (Mittelelbe).
Über die Begehung des 70. Geburtstag des Reichskanzlers am 1. April 1885 allgemein ist Folgendes zu lesen: „Es liegen jetzt zwei ausführliche Berichte … vor und läßt sich daraus ersehen, daß dieser Tag geworden ist, was alle deutschgesinnten Kreise erhofft hatten, ein Freuden- und Dankesfest des gesamten Volkes. Nur ganz vereinzelt haben Personen und Körperschaften es nicht vermocht, ihre von denen des Kanzlers abweichenden politischen Anschaungen auch nur zeitweise zurückzustellen und sich gemeinsam mit den anderen des großen Mannes zu freuen, dem ja doch auch der erbittertste Gegner von der Außergewöhnlichkeit seiner mächtigen Erscheinung nichts nehmen kann. Doch es sind deren, wie gesagt, nur wenige gewesen, die weitaus überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes ist froh und von Herzen guter Dinge gewesen, sie hat endlich nach langen Zeiten des Zankes und des Streites die Freude am Vaterland einmal ganz genossen. Zu denjenigen Städten, in welchen der Ehrentag unseres Kanzlers in echt patriotischer Weise gefeiert wurde, hat auch Wimpfen gehört (siehe Corresp.).“ Dort wurde am Vorabend von Bismarcks Ehrentag im Gasthof zum Ritter ein Festbankett veranstalt. Dieses war so überaus zahlreich von Gästen aus nah und fern besucht, dass der Festsaal und das daran stoßende Wirtschaftszimmer bis auf den letzten Platz besetzt waren. Dort war eine Büste des Fürsten aufgestellt und gab es eine reiche Dekoration durch Fahnen, Girlanden, Oleanderbäume und Blumenbuketts auf der Festtafel. Es wurde ein Festmahl gereicht, dem eine Ansprache von OBERAMTSRICHTER LAZI aus Neckarsulm, dem Vorsitzenden der Vollmondes-Kranz-Gesellschaft, folgte. Dann wurden Toasts auf den Kaiser und die Fürsten ausgebracht und gab es eine Rede des WIMPFENER II. PFARRERS PETERSEN mit einer trefflichen Schilderung des Lebens Bismarcks mit anschließendem in riesenhafter Begeisterung dargebrachtem Toast, wobei dieser als der größte Staatsmann des Jahrhunderts gepriesen wurde. Es folgten „Deutschland-Deutschland-über-alles“ und weitere Reden, z. B. die von KAUFMANN VOHWINKEL aus Heilbronn, der einen Toast auf die hauptsächlich durch Bismarcks Staatskunst nun errungene deutsche Einheit ausbrachte. Letzte Toasts des FABRIKANTEN BACHERT aus Jagstfeld galten dem deutschen Nationalgeist sowie dem Generalstabschef Graf Moltke.- Es herrschte, so heißt es, bei allen Gästen größte Befriedigung. Die badische Eisenbahngeneraldirektion hatte einen Extrazug mit sämtlichen Wagenklassen gewährt und so konnten um ½ 11 Uhr die auswärtigen Teilnehmer wegfahren und in Jagstfeld auch noch Anschluss an die Neckartalbahn finden.
Am 21. Februar 1887 steht die Wahl zum Siebten Reichstag an, nachdem der Bundesrat und der Kaiser diesen wegen Ablehnung der nach Ablauf des Heeresgesetzes bzw. Septenats von 1881 von der Regierung Otto von Bismarck eingebrachten Heeresvorlage aufgelöst hat. Nach dieser soll das Heer in Friedenszeit um 10 Prozent auf 468.000 Mann für die Dauer von 7 Jahren aufgestockt werden. Wiederum bildet in Wimpfen eine Anzahl von Anhängern der nationalliberalen Partei ein Lokal-Comitée, das sich abermals für die Unterstützung das Kandidaten MARQUARDSEN ausspricht. Kaiser Wilhelm, so wird vom Redner argumentiert, sei über die Ablehung der Vorlage aufs Höchste betrübt und man hoffe, dass der neue Reichstag mit Majorität für diese stimme und damit der Kaiserlichen Majestät den Wunsch des Volkes zu erkennen gebe. Die mit Begeisterung reagierende Versammlung schließt mit einem „Hoch auf den Heldenkaiser und einem Toast auf den innig mit dem Kaiserhaus verbundenen Reichskanzler Bismarck“. Der Zeitung liegt im Wahlmonat laufend die „Grenzwacht“ bei, das Blatt der Nationallberalen, das natürlich im vorgenannten Sinne Wahlwerbung betreibt. Das Comitée veröffentlicht zwei Wochen vor der Wahl einen langen Wahlaufruf: Die Sicherung des unter schweren Opfern geeinigten Vaterlandes sei erste und höchste Aufgabe. Die Gewähr dafür liege in einem allen Wechselfällen gewachsenen Heer. Es sei ein Frevel, wenn dessen Stärkung versagt werde. Der letzte Reichstag habe in dieser Frage einen Standpunkt eingenommen, mit welchem die notwendige nachhaltige Fürsorge für die Erhaltung der Machtstellung Deutschlands und damit des Friedens unvereinbar erscheine. Deshalb sei dieser aufgelöst worden und habe sich unter dem Losungswort „Kaiser und Reich“ ein Wahlkampf führender Landesausschuss der nationalliberalen Partei gebildet. „Wähler! Der Wahltag rückt heran. Angesichts der ernsten politischen Lage unseres Vaterlandes appellieren wir an das Nationalgefühl jedes deutschen Mannes. Wir haben die feste Zuversicht, daß alle reichstreuen Wähler überzeugt sind, daß die Verstärkung unseres Heeres, das die Einheit, Macht und Größe unseres Vaterlandes gewährleistet, in dem von der Regierung geforderten Umfang nötig ist. Darum tretet an die Wahlurne und gebt Herrn Prof. Dr. Marquardsen eure Stimme, der für die volle Bewilligung der Militärvorlage einzutreten bereit ist. Das Wahlcomité für den Bezirk Wimpfen.“ Es folgen viele Unterschriften aus Wimpfen am Berg, im Tal und Hohenstadt.- Zu diesen gesellt sich anderthalb Wochen später noch eine große Anzahl weiterer solcher, deren Bekanntgabe in der Zeitung eine halbe Seite füllen.
Von Wahlwerbung für den Gegenkandidaten DR. JUR. ALEXANDER PAUL ALBRECHT MEYER (1832 – 1909), Mitglied des preußischen Landtags, welcher der 1884 neu gebildeten linksliberalen Deutsch-Freisinnigen-Partei angehört, ist nichts Direktes zu hören. Die Wimpfener Zeitung meldet, das Heilbronner Arbeiter-Wahlcomitée habe in einer Anzeige erklärt, dass dessen Reichstagskandidat und bereits 1884 dort als solcher aufgetretene Sozialdemokrat SCHREINER EMIL FLEISCHMANN in Heilbronn eintreffen werde, um seine Wahlreise zu beginnen. Doch habe man die Rechnung ohne die Obrigkeit gemacht, die alle Wahlversammlungen desselben verboten habe. Drei Tage vor der Wahl wird von der Wimpfener Zeitung aus der Pfälzer Zeitung zur Rechtfertigung der geforderten deutschen Heeresvermehrung ein Doppelbild übernommen, das die Aufrüstung von Frankreich und Deutschland gegenüberstellt und zeigt, dass diejenige Frankreichs größer ist. Und der Heppenheimer KREISRAT GRÄFF bezeichnet die angeblich vor allem auf dem Lande verbreitete Behauptung, das Septenat bedeute die Verlängerung der Dienstzeit auf 7 Jahre, als Irreführung und droht den Verbreitern mit Anzeige. Die massive Wahlagitation des nationalliberalen Lagers zeigt Wirkung sowohl hinsichtlich der Wahlbeteiligung als auch der gewonnenen Wählerstimmen: Von 673 Wahlberechtigten geben 522 (77,6 Prozent) ihre Stimme ab, wovon MARQUARDSEN (NLP) 367 und MEYER (DFP) nur 155 Stimmen zufallen. Im Wahlkreis Worms-Heppenheim-Wimpfen erhält der Erstgenannte 11.726 (62 %) und der Zweitgenannte nur 7.169 (38 %) Stimmen. Die Wahlbeteiligung im Reich entspricht mit knapp über 77 % fast genau der in Wimpfen und liegt damit deutlich über derjenigen aller vorangegangenen Reichstagswahlen. Mit einem gewaltigen Zuwachs von 46 Stimmen erringen die Nationalliberalen 97 Stimmen und damit fast das mit 98 Sitzen weiter die Spitze haltende Zentrum. Da einerseits die Nationalliberalen am Tag der Reichstagsauflösung mit den Konservativen ein Wahlbündnis (Wahlkartell NLP + DKP + DRP) geschlossen haben, das zusammen 219 Sitze erreicht und Bismarcks Position unterstützt und andererseits die Linksliberalen sowie die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands dagegen starke Verluste erleiden (DFP nur noch 32 Sitze bei 35 verlorenen Sitzen, SAPD nur noch 11 bei 13 verlorenen Sitzen), kann Bismarck in den Anfängen des neuen Reichstags das heiß umstrittene Septenat abermals durchsetzen.
Am 26. Mai 1889 vermeldet die Wimpfener Zeitung im Fettdruck: „Das Alters- und Invalidengesetz ist mit 185 gegen 165 Stimmen angenommen worden.“ Wie zu Zeiten der Einführung der Kranken- und Unfallversicherung folgen jetzt immer wieder über Jahre hinweg Meldungen zu deren Einführung für die verschiedenen Berufsgruppen und segenbringenden Wirksamkeit vor Ort, worüber im Kapitel J ausgiebig zu berichten sein wird. Als zum 1. Januar 1890 ein neues Jahrzehnt ansteht, hält die Wimpfener Zeitung in einem Gedicht Rück- und Vorausschau auf des deutschen Reiches Los, das am Schluss die Schaffung und das Gewachsensein des deutschen Heeres als den Garant des erlebten wie künftigen Friedens preist:
Als im beginnenden Jahr 1890 die dreijährige Legislaturperiode des Siebten Reichstags dem Ende entgegengeht und REICHSKANZLER BISMARCK das Sozialistengesetz unbegrenzt verlängern lassen will, scheitert er dadurch, dass ihm die bislang ihn stützenden drei „Kartellparteien“ die Gefolgschaft verweigern, weil der nunmehr regierende und sich in die Politik einbringende junge KAISER WILHELM II. seine Ablehnung durchblicken lässt und diese dadurch sich innerlich zerstreiten. In welch weiterer Weise kurz danach, den Kanzler übergehend und brüskierend, sich der junge Kaiser der Arbeiterschaft gewogen zeigt, und es dadurch vollends zum Bruch mit dem Kanzler kommt, wurde bereits dargestellt. In dieser Situation kommt die laut Verordnung des Kaisers auf den 20. Februar 1890 gelegte Wahl zum Achten Deutschen Reichstag heran, welche die erste Wahl in des neuen Kaisers Amtszeit und jetzt auf eine Legislaturperiode von 5 statt bisher nur 3 Jahren ausgelegt ist.
So früh wie noch nie, am 19. Januar 1890 und damit einen Monat vor dem Wahltag, setzt in Wimpfen die Wahlagitation durch einen Zeitungsaufruf des Landesausschusses der Nationalliberalen Partei in Hessen ein, in dessen Kernteil noch nichts von der persönlichen und sachbezogenen Krise zwischen Kaiser und Kanzler zu spüren ist: „Diese Wahl ist von der höchsten Bedeutung … und es fällt die Entscheidung, ob Deutschland einer ruhigen friedlichen Entwicklung entgegengeht in vereinigtem Wirken seiner Majestät des Kaisers und seiner im Fürsten Bismarck verkörperten Regierung mit der Mehrheit des Reichstags oder ob die Herrschaft einer Mehrheit der sich gegenseitig anfeindenden, aber gegen uns vereinten Parteien der Sozialdemokraten, Deutschfreisinnigen, Ultramontanen, Welfen, Polen, Elsäßer hingegeben werden wird.“
Es folgt am 11. Februar ein Hinweis der Zeitung auf einen vom Vorstand der Kriegervereine „Die Parole“ veröffentlichten Aufruf, der sich hauptsächlich gegen die Unterstützung der Sozialdemokraten durch Vereinsmitglieder richtet: „Kameraden, wer als Mitglied der Kriegervereine Feinde der Monarchie und das Vaterland ankämpfende Parteien unterstützt, bricht … sein Ehrenwort beim Eintritt in den Verein und muß aus unseren Reihen scheiden.“
Dann lädt die Nationalliberale Partei zu einer am Montag, 17. Februar, abends 8 Uhr, im Ritter stattfindenden Wahlversammlung ein und kündigt an, dass die Wahlrede der (inzwischen geadelte und zum ersten Mal in Wimpfen persönlich erscheinende) Kandidat PROF. DR. VON MARQUARDSEN halten wird. Den Vorsitz derselben führt wieder der Wimpfener „Turnvater“ WILHELM KLEYER. In einer mehr als einstündigen oft durch Beifall unterbrochenen Rede berichtet der Redner „über seine Tätigkeit im verflossenen Reichstag und die hervorragende Anteilnahme der Partei an den gesetzgeberischen Arbeiten: Bewilligung des Septenats und Vermehrung der Wehrkraft.“ Beides sei notwendig gewesen, um die führende Stellung Deutschlands beizubehalten. Nachdem die Stärkung der Wehrkraft genehmigt sei, müssten auch die Mittel bereitgestellt werden. Die Freisinnigen würden es sich leicht machen und überließen deren Besorgung den Nationalliberalen. Die Erhöhung der Branntweinsteuer und die Getreidezölle hätte die Reichseinnahmen erhöht und die Letzteren habe auch den Vorteil des Schutzes der Landwirtschaft gebracht. Dann kam er zu den sozialpolitischen Gesetzen: die Krankenversicherung und die Alters- und Invaliditätsversorgung, „Gesetze, um die uns die ganze Welt beneiden und sich anschickt, auf diesem Gebiete zu folgen“. Der segensreiche Einfluss auf die Arbeiter zeige sich schon jetzt, noch offensichtlicher werde dies in einigen Jahren. Es gebe noch viel zu tun, um die sozialen Gegensätze auszugleichen; „die jüngsten kaiserlichen Erlasse bringen das in edelster Weise zum Ausdruck (Arbeiterschutz, Versorgung der Arbeiterwitwen und -waisen)“. Zukunftsaufgabe: Schaffung eines Bürgerlichen Gesetzbuches. Es würde ihn freuen, so schloss der Redner, wieder von seinem alten Wahlkreise betraut zu werden und daran mitwirken zu können.- Nach langem Beifall mahnt der Vorsitzende Kleyer, am Wahltage nicht von der Wahlurne fernzubleiben. REALLEHRER WITTICH fordert die Versammelten auf, „die durch sozialistische Agitatoren Irregeleiteten aufzuklären“.
Tatsächlich soll genau zur selben Zeit, wie ein durch „Viele Wähler“ in der Zeitung ergangene Einladung zu einer Wahlversammlung meldet, im Wacker’schen Saale eine Wahlversammlung stattfinden, bei welcher der für die Sozialdemokraten im Reichstagswahlkreis 7 Worms-Heppenheim-Wimpfen kandidierende SCHUHMACHERMEISTER HEINRICH BERTHOLD AUS DARMSTADT zu den Wählern sprechen werde. War z. B. in Heilbronn, wie bereits berichtet, 1887 und damit zu Zeiten der Gültigkeit des Sozialistengesetzes der angekündigte Wahlauftritt des Sozialdemokraten EMIL FLEISCHMANN noch verboten worden, so stand jetzt durch die Nichtverlängerung dieses Gesetzes der Weg für die Abhaltung dieser sozialdemokratischen Versammlung offen. Wie jedoch der dazu erschienene Zeitungsbericht zeigt, sind die höchst zahlreich Erschienenen vermutlich einem Scherz aufgesessen: „Einen fastnachtsartigen Verlauf nahm die auf gestern abend 8 Uhr sozialdemokratischerseits in den Wackerschen Saal einberufene Wählerversammlung, in welcher der sozialdemokratische Kandidat Schuhmachermeister Berthold aus Darmstadt sich den Wählern vorstellen sollte. Der Saal war von Neugierigen gedrängt voll, aber die Eröffnung der Versammlung fand nicht statt. Zur Kurzweil ließ der Wirt das Orchestrion spielen, man scherzte und lachte, machte Witze und ließ ‚zarte’ Anspielungen fallen; die Zeit verrann, aber weder von dem Redner des Abends noch von den Einberufern des Abends war etwas zu sehen oder zu hören. Eine aus der Mitte ergangene Aufforderung um eine Aufklärung dieses Verhaltens war ohne Erfolg und so blieb den Versammelten nichts anderes übrig, als sich in das Geschick zu fügen und auf die Bekanntschaft des sozialdemokratischen Kandidaten zu verzichten. So endete diese erste sozialdemokratische Versammlung in Wimpfen als ein kleiner Fastnachtsscherz, der in der ernsten Zeit des Wahlkampfes doch wenigstens eine Abwechslung bot.“ Dass die Sozialdemokraten am Ort schon eine mehr oder minder große Anhängerschaft haben, zeigen der volle Saal und das spätere Wahlergebnis.
Es ergehen auch Aufrufe an die Landwirte, die Nationalliberalen zu wählen, weil die Deutsch-Freisinnigen stets Zölle (Weinzoll, Getreidezoll) bekämpft hätten und somit als Gegner des Bauernstandes anzusehen seien. Deren Kandidat im Wahlkreis Worms-Heppenheim-Wimpfen ist der berühmte PROF. RUDOLF VIRCHOW, GEHEIMER REGIERUNGSRAT ZU BERLIN, Arzt an der Charité und Begründer der modernen Pathologie, ein entschiedener Gegner Bismarcks, auch Gegner der Kolonialpolitik und Anhänger der Abrüstung. Auf der Rückseite der Zeitung erscheint von dessen Partei ein großer die Seite füllender Wahlaufruf, der sich u. a. gegen die „Kartellparteien“ ausspricht und deren Anspruch auf Stärkung des Militärs und das Septenat als „Kriegsschwindel“ bezeichnet, die unerhörte Belastung durch Steuern anprangert, die Verlängerung der Legislaturperiode und das Septenat als Schmälerung der Grundrechte, d. h. der Kontrolle der Volksvertretung, bezeichnet. In diesem Sinne spricht auch in der Versammlung der Deutsch-Freisinnigen in der Traube, in welcher der in Wimpfern ansässige hessische GEOMETER ERSTER KLASSE GROß den Vorsitz führt, in etwa zweistündiger Rede RECHTSANWALT DR. KLEIN AUS WORMS und entwickelt dann ein Programm, zu dessen Verwirklichung die Wähler beitragen sollen. Es folgt dann sogar noch eine kurze Auseinandersetzung mit zwei erschienenen Vertretern der Sozialdemokratie aus Heilbronn, bis dann erst um ½ 11 Uhr die Versammlung geschlossen werden kann.
Damit geht zum ersten Mal in Wimpfen einer Reichstagswahl etwas voraus, was sich einem echten Wahlkampf annähert, zumal ja auch jetzt wenigstens vier Kandidaten bzw. Parteien und nicht nur zwei oder bestenfalls drei zur Auswahl stehen. Von dem bzw. für den Kandidaten der vielfach immer noch als „Ultramontane“ beschimpften Zentrumspartei, nämlich dem sich – wie 1879, 1881 und 1884 – wieder stellenden Darmstädter Zentrumsabgeordneten OBERLANDESGERICHTSRAT EUGEN FRANK, ist allerdings wieder kein Auftritt zu finden. Die Ergebnisse der Wahl auf den verschiedenen Ebenen zeigt die nachfolgende Übersicht:[37]
Trotz des relativ regen Wahlkampfes liegt die Wahlbeteiligung im Wahlbezirk Wimpfen von 62,5 % dieses Mal deutlich unter der (ebenfalls etwas zurückgegangenen solchen) des Reiches von 71 %. Zwar hält von Marquardsen vor Ort die Spitze und setzt dieser sich im Wahlkreis unangefochten zum vierten Male durch. Doch liegt sein Hauptgegner VIRCHOW in Wimpfen nur um eine Stimme zurück und es erreicht sowohl der altbekannte Kandidat des Zentrums FRANK mit 28 Stimmen als auch derjenige der (erstmals in Wimpfen mit einem Bewerber vertretenen) Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (fortab: Sozialdemokratische Partei) mit immerhin 24 Stimmen einen Achtungserfolg. Im Reich erleben die in der Übersicht in den ersten drei Rubriken aufgeführten – der „Rechten“ angehörenden – „Kartellparteien“, darunter am stärksten die Nationalliberalen mit 56 verlorenen Sitzen, eine katastrophale Niederlage. Der eingetretene Linksruck zeigt sich an der Verdoppelung des Sitzanteils der Deutschfreisinnigen von 32 auf 66 sowie am Sprung der Sozialdemokraten von 11 auf 35 Sitze, deren Wählerstimmenanteil mit nunmehr 19,7 % vor dem der Zentrumspartei mit 18,6 % die Spitze erreicht. Dass aber diese mit 106 Sitzen jene dennoch um das Dreifache übertrifft und auch drei der anderen Parteien (DKP, NLP, DFP) trotz deutlich niedrigerem Wählerstimmenanteil wesentlich mehr Sitze zugefallen sind, liegt daran, dass das Mehrheitswahlrecht, dazu das rapide Wachsen der großstädtischen und jetzt von der Sozialdemokratie dominierten (doch bewusst auf dem Ausgangsstand des Jahres 1871 unverändert gehaltenen) Wahlkreise bezüglich der Sitzanteile gewaltige Verzerrungen zu Ungunsten der Sozialdemokraten herbeiführte.
Das durch diese Wahlergebnisse sowie durch die vom neuen Reichstag umgehend von fünf wieder auf drei Jahre herabgesetzte Legislaturperiode weiter befestigte Scheitern der politischen Zielstellungen von REICHSKANZLER BISMARCK wurde schließlich dadurch besiegelt, dass KAISER WILHELM II. vier Wochen nach der Wahl am 20. März 1890 dessen Entlassung verfügt hat. Anderthalb Wochen danach feiert man nichtsdestotrotz im ganzen Deutschen Reich dessen auf Montag, den 1. April, fallenden 75. Geburtstag, und nicht minder auch in Wimpfen, wozu die Wimpfener Zeitung wie folgt einlädt:
„Wie allerorts im deutschen Vaterlande und darüber hinaus, so soll auch diesmal der Geburtstag des aus seinem Amte scheidenden Reichskanzlers, in dem er so Großes für sein Volk geschaffen, besonders gefeiert werden, um dem aufrichtigen Dankgefühl gegen denselben Ausdruck zu geben. Unser Bürgermeister ladet deshalb die Einwohnerschaft von hier und Umgebung zu zahlreicher Beteiligung an einer am Dienstagabend (2. April) im Ritter stattfindenden geselligen Vereinigung ein in der Hoffnung, daß dem Ruf mit voller Einmütigkeit gefolgt wird. Diesmal ist dieser von umso höherer Bedeutung für alle Deutschen, als das Ausscheiden dieses größten Staatsmannes und verdienstvollen Bürgers aus Amt und Wirken erst so kurze Zeit zurückliegt.“
Der Bericht über diese Feier lautet u. a.: „Entsprechend der Doppelnatur der Feier konnten sich die an jenem Abend gehaltenen Toasts in keiner anderen Richtung bewegen, als auf der einen Seite dem Gefeierten den höchsten ihm geschuldeten Dank des Vaterlandes, auf der anderen Seite den innigsten Wünschen für die Zeit seiner wohlverdienten Ruhe Ausdruck zu geben. In diesem Sinn forderte Herr Kleyer die Anwesenden auf, mit ihm auf den Fürsten Bismarck einzustimmen und toastete Herr Dohany auf das geeinte Vaterland, nachdem er in Worten voll patriotischer Begeisterung, die lebhaften Beifall in den Herzen der Versammlung fanden, die Verdienste des großen Reichskanzlers an dem großen Einigungswerk hervorgehoben hatte.“
Das abgeschickte Telegramm lautete: „Vom Neckarstrand zum Sachsenwald tönen die herzlichsten Glückwünsche und Segenswünsche dem größten Staatsmann unseres Jahrhunderts, dem Schöpfer des Reichs von der Festversammlung zu Wimpfen entgegen. I. A. Bornhäußer, Bürgermeister.“ Das eingegangene Dankschreiben mit den Schriftzügen des Fürsten lautet: „Friedrichsruh, 14. 4. 1890. Für den Glückwunsch zu meinem Geburtstage sage ich Ihnen und den anderen Herrn Unterzeichnern, die meiner gedacht haben, meinen verbindlichsten Dank. v. Bismarck.“
Zwei Wochen später unter dem 13. April druckt die Zeitung das an Paul Gerhards Passionschoral angelehnte ergreifende Lob- und Dankesgedicht ab, das ERNST VON WILDENBRUCH dem scheidenden Reichskanzler gewidmet hat:
Eine Woche danach folgt ein Sarkasmus atmender Reimvers eines Couplets, das im Alliance-Theater Berlin in einem Stück des Titels „Nautilus“ der Darsteller des Steuermanns Schrader singt und auf den Abgang Bismarcks als Lenker des Staatsschiffes und die Übernahme des Ruders durch REICHSKANZLER LEO GRAF VON CAPRIVI anspielt:Als zu dieser Zeit unter dem Protektorat Kaiser Wilhelms II. in der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreiches zu Ehren des Fürsten Bismarck die Errichtung eines Nationaldenkmals in die Wege geleitet wird, bekunden in einem von der „Wimpfener Zeitung“ veröffentlichten diesbezüglichen Spenden-Aufruf viele Wimpfener durch ihre Unterschrift ihre Unterstützung und findet sich unter den zehn vom Wahlkreis Worms-Heppenheim-Wimpfen gestellten Mitgliedern des um Beiträge werbenden hessischen Zentral-Komitees auch der Wimpfener Salinenbuchhalter, glühender Bismarck-Verehrer und Verfechter der Reichsidee, WILHELM KLEYER genannt. Und als dann 1892 eine Anzahl Bismarckfreunde in der „Traube“ zusammenkam, um den 77. Geburtstag des Alt-Reichskanzlers Bismarck in würdiger Weise zu feiern, war es Kleyer, der das Hoch auf diesen, „den Deutschesten der Deutschen, ausbrachte, indem er auf die unvergeßlichen und unauslöschlichen Verdienste des Kanzlers um die Gründung des Reiches in kerniger Ansprache hinwies. Im Anschluss an das Hoch wurde nach der Melodie des Deutschlandliedes ein Bismarcklied gesungen“. Die Schlußstrophen des letztgenannten Liedes lauteten:
„Noch manches patriotische, von Liebe für den deutschen Einheitsgedanken getragene Wort kam zur Geltung, während der Gesangverein Concordia die Feier durch den exakten Vortrag mehrerer herrlicher Männerchöre würzte und sein Teil zum Gelingen des Abends beitrug. Ein Glückwunschtelegramm wurde an den Fürsten Bismarck gesandt.“
1894 wird im „Ritter“ zum 79. Geburtstag Bismarcks ein „erhebendes Fest“ gefeiert. „Oberamtsrichter Süffert weist darauf hin, daß wir mit freudigem Herzen diesen Tag begehen können, da der Kaiser dem Fürsten die Hand zur Versöhnung gereicht habe.“ Der von STADTPFARRER WEITBRECHT verfasste Reimtext des Telegramms an den Jubilar lautet:
Zum 80. Geburtstag Bismarcks am 1. April 1895 wird auf Anordnung des Großherzogs geflaggt und die Schule geschlossen. Im „Ritter“ findet wieder ein Festbankett statt. In Anspielung auf dessen Geburtsdatum wird in der Festrede vom „Mann, der uns nicht in den April geschickt habe“ gesprochen und darauf hingewiesen, „daß man an anderer Seite dem Ereignis kalt und störrisch gegenüberstehe, daß vor allem die Jugend sich nicht beteilige“. Dennoch wird festgestellt: „Wir dürfen annehmen, daß unter den vielen Festversammlungen, die zu Ehren Bismarcks gehalten wurden, diese eine der wohlgelungensten war.“ Der Text des an den Jubilar abgeschickten abermaligen Telegramms lautet: „Fürst Bismarck, Friedrichsruh! Dem Vater des Vaterlandes, dem Stolz des deutschen Manns, wünschen Glück und Segen heut und allerwegen. Die festlich versammelten Bewohner von Wimpfen.“ Als stark drei Jahre später die Nachricht vom am 30. Juli 1898 erfolgten Ableben des Altreichskanzlers Bismarck im Alter von 83 Jahren eintrifft, sendet der Stadtvorstand die nachstehende Beileidsadresse ab:
Die Feststellung, dass man „an anderer Seite dem Ereignis kalt und störrisch gegenüberstehe“, erklärt sich damit, dass seit dem Fall des Sozialistengesetzes im Jahr 1890 in Wimpfen die Sozialdemokratische Partei und die Aktivitäten ihrer Anhänger sich in mächtigen Anstieg befanden und immer wieder Auseinandersetzungen mit diesen teils heftiger Art mit dem bürgerlichen Lager heraufbeschworen. Mit Feuereifer zeigten sich vor allem Vertreter aus den Reihen der hessischen Beamtenschaft in der Zeitung und in der sonstigen Öffentlichkeit bemüht, die „sozialistischen Irrlehren“ zu widerlegen. Mehr darüber jedoch an späterer Stelle in Kapitel J.
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[1] Ungenannter Verfasser (Festschrift), 1933, S. 6 (Abschnitt: Aus der Vereinschronik des Jubilars)
[2] Haberhauer, Günther, 2006, S. 172
[3] Haberhauer, Günther, 1999, S. 32
[4] Haberhauer, Günther, 1999, S. 24
[5] Haberhauer, Günther, 1999, S. 32
[6] Regierungsblatt 1875, S. 102
[7] Scheible, Erich, 2009, S. 128 – 129
[8] Scheible, Erich, 2009, S. 136 – 137
[9] Im Besitz von Elfriede und Helmut Klenk, Albert-Maier-Str. 15, Bad Wimpfen am Berg
[10] Annette Clauß, 2016, S. 23
[11] Ungenannter Verfasser (Festschrift), 1933, S. 6 und 7 (Abschnitt: Aus der Vereinschronik des Jubilars)
[12] Haberhauer, Günther, 1999, S. 9
[13] Vorlage zur Verfügung gestellt von Otto Maisenhälder
[14] Ungenannter Verfasser, 1914, S. 11
[15] Kemmer, Karl, 1897, S. 29
[16] Haberhauer, Günther, 1999, S. 35
[17] Ungenannter Verfasser, 1914, S. 11
[18] Ungenannter Verfasser, 1914, S. 12
[19] Ungenannter Verfasser, 1914, S. 12 und 13
[20] Haberhauer, Günther, 1999, S. 39
[21] Haberhauer, Günther, 1999, S. 53
[22] Haberhauer, Günther, 1999, S. 27
[23] Haberhauer, Günther, 1999, S. 38
[24] Entnommen: Knodt, Manfed 1989, S. 115 und 117
[25] Knodt, Manfred, 1989, S. 116 – 118
[26] Ungenannter Verfasser, Meyers Gr. Konversations-Lexikon, 1907, Geschichte des Großherzogtums Hessen, S. 273
[27] Knodt, Manfred, 1985, S. 9 – 18 (Europas Fürstlichkeiten und ihre Beziehungen zu Großherzog Ernst Ludwig)
Knodt, Manfred, 1985, Innenseite des Buchumschlags: Abstammung von Großherzog II. von Hessen (auszugsweise)
[28] Haberhauer, Günther, 1999, S. 74
[29] Haberhauer, Günther, 1999, S. 50
[30] Haberhauer, Günther, 1999, S. 61
[31] Haberhauer, Günther, 1999, S. 69
[32] Haberhauer, Günther, 1999, S. 67
[33] Haberhauer, Günther, 1999, S. 71
[34] Krockow, Christian Graf von, 1997, S. 358 – 360
[35] Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie: Friedrich Wilhelm Fritzsche
[36] Dürr, Friedrich, Band 1, 1986, S. 452
[37] Die auf den Reichstagswahlkreis 7 Worms-Heppenheim-Wimpfen bzw. den Wahlbezirk Wimpfen bezogenen Wahlergebnisse sind entnommen:
Klein, Thomas, 1995, S. 331 bzw. 323. Die von der „Wimpfener Zeitung“ angegebenen etwas abweichenden Stimmenzahlen für den Wahlkreis sind unter der Übersicht kommentierend vermerkt. Die auf das Deutsche Reich in seiner Gesamtheit bezogenen Zahlenangaben sind – genau wie die meisten der vielen an anderen Stellen aufgeführten allgemeinen Fakten über die Reichstagswahlen – entnommen:
Wikipedia, der freien Enzyklopädie (Gesamt-Thematik: Reichstagswahlen 1871 – 1912)