b. Wie der spätere „Sedangeneral“ Emmanuel Félix de Wimpffen mutter- und vaterlos aufwächst und, der Familientradition folgend, ab dem 10. Lebensjahr die Militärvorschule und ab dem 18. Lebensjahr die berühmte Offiziersschule Saint-Cyr besucht, die er 1833 als Unterleutnant verlässt.
Wenn nunmehr dem drittältesten Sohn des bislang übergangenen Gründers des Franzens-Zweiges FRANZ LUDWIG VON WIMPFFEN (1732 – 1800) namens FÉLiX DE WIMPFFEN (1778 – 1813), gesondert in einem ungewöhnlich umfänglichen Unter-Kapitel, größte Aufmerksamkeit zugewandt wird, so hat das ganz besondere Gründe: Wie der Blick in die Generationsreihe XIVc bzw. 12c der II. Stammtafel des Constantin von Wurzbach, wo dieser an 8. Stelle dessen 12-köpfiger Kinderschar zu finden ist, zeigt, ist dieser im Gegensatz zu seinen oben unter a) bis e) aufgeführten fünf Brüdern zwar kein Zweiggründer geworden; doch handelt es sich bei diesem um den Vater jenes französischen GENERALS EMMANUEL FÉLIX DE WIMPFFEN (1811 – 1884), der am Beginn des Unter-Kapitels A.1.a als der Verlierer der Schlacht bei Sedan im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 bezeichnet und somit abschätzig als der „Sedangeneral“ in die Geschichte eingegangen ist. Dessen gesamtes Leben und innerhalb desselben seine tragische Rolle in dieser Schlacht von Sedan soll nunmehr nicht nur kurz gestreift, sondern in allen Einzelheiten geschildert werden. Diese Gründlichkeit erscheint aus doppeltem Grund angesagt:
– Zum einen: Wie an späterer Stelle offenkundig wird, war dieser ein Vetter jenes oben herausgestellten Geschwisterpaares KATHARINA und WILHELM VON WIMPFFEN, das in den 1870er Jahren und damit im ersten Jahrzehnt nach dem siegreichen Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 für das hessische Exklavenstädtchen Wimpfen am Neckar durch den Erwerb eines Hausanwesens und eines Grundstückareals bzw. die Wahl zum Alterswohnsitz ganz besondere Bedeutung erlangte.
– Zum andern: Als der unglückliche Verlierer der Schlacht bei Sedan und sein dadurch gedemütigtes Vaterland Frankreich vertretender Unterzeichner der Kapitulationsurkunde hat er sowohl die Geschichte dieses Krieges als auch den Weitergang der Geschichte hinsichtlich des Verhältnisses seines Vaterlandes Frankreich zum nunmehr die Einheit erringenden Nachbarland Deutschland und damit das neue Gesicht desselben entscheidend mitgeprägt.
Dessen vorstehend bereits genannter Vater FÉLIX (VICTOR EMMANUEL CHARLES) DE WIMPFFEN ist laut C. von Wurzbach am 02. 11. 1778 auf der Bornburg (Günthersburg) nächst Frankfurt a. M. geboren und am 24. Februar 1814 zu Frankfurt am Main, laut J. P. Allart richtigerweise jedoch am 21. 07. 1813 in Paris, gestorben. Aus Wurzbach ist noch zu erfahren, dass dieser wie sein Vater FRANZ LUDWIG (und wie fast alle seine Oheime, um dies ergänzend zu sagen) in die französische Armee eintrat, in der er als Oberst des 2. Linien-Infanterie-Regimentes starb. Er sei zwar vermählt gewesen, doch sei der Name seiner Gemahlin, welche ihm einen Sohn EMANUEL FELIX (hier die Namens-Schreibweise des C. von Wurzbach wie in der Regel der anderen deutschen Autoren) gebar, nirgends ersichtlich.
Die Unklarheiten haben sich, vor allem, was die Mutter und was die Umstände der Geburt dieses einzigen Sohnes EMMANUEL FÉLIX (geschrieben hier und im Fortgang immer nach dem Vorbild der nachgenannten Veröffentlichung mit Doppel-M) und auch dessen Werden zum französischen Offizier betrifft, neuerdings nun doch dadurch gelichtet, dass ich Anfang Dezember 2013 während der Schaffung des den Freiherren und Grafen von Wimpffen geltenden Textes von Dr. Hans H. von Wimpffen freundlicherweise die erst kurz zuvor im Vorjahr 2012 veröffentlichte Abhandlung von Jean-Pierre Allart „Le général de Wimpffen (1811 – 1884). L’autre homme de Sedan“ erhielt. Deren mit „Les années d’apprentissage (1811 – 1832)“ überschriebenes erstes Kapitel legt klar, dass die Mutter des Emmanuel Félix nicht die (namenmäßig nicht ermittelbare Gattin) gewesen sei, sondern ein junges 19 Jahre altes Mädchen namens CORNÉLIE BRÉDA (geb. 1792) aus Leeuwarden, dem damaligen Haupt- und Garnisonsort des Départements de la Frise in den Niederlanden, gewesen ist. Der 32-jährige Colonel (Oberst) FÉLIX (VICTOR EMMANUEL CHARLES) DE WIMPFFEN hatte dieses, als er sich dort in Garnison befand, im Dezember 1810 kennengelernt. Als dieses von ihm ein Kind erwartete, zögerte er zunächst zwar, unter den gegebenen Umständen dieses als das seine anzuerkennen, trug jedoch nach seiner Rückkehr nach Frankreich Sorge, Cornélie in Laon bei einem Waisenhaus-Arzt niederkommen zu lassen, der in nächster Nähe seiner Schwester namens ADÉLAÏDE CUNÉGONDE DOROTHÉE und deren Gatten FRANÇOIS GUILLAUME MARQUETTE DE LA VIÉVILLE, dem einstigen Schwadronschef, jetzt stellvertretenden Richter am Schwurgerichtshof des Départements de l’Aisne, Mitglied des Wahlvorstandes und Ritter der Ehrenlegion, wohnte. Die Suche in von Wurzbachs II. Stammtafel lässt diese beiden in der dortigen durchgehenden grünen Generationslinie XIVc bzw. 12c an der sechsten Stelle als ADELHEID (DE WIMPFFEN), geb. am 5. November 1772, vermählte DE LAVIÉVILLE, gestorben 1814, erscheinen. Damit sind wir abermals bei einem Kind des oben angeführten Gründers des c) Franzens-Zweiges FRANZ LUDWIG VON WIMPFFEN angekommen, und zwar bei seiner viertältesten Tochter, die wie einige ihrer Geschwister in Stuttgart im Zeitraum dessen Aufenthaltes im Herzogtum Württemberg geboren ist. Laut Civilregister von Laon gebar, wie dieser Waisenhaus-Arzt am Folgetag der Behörde meldete, Cornélie Bréda, gebürtig zu Leeuwarden, am 13. September 1811 um 10 Uhr abends einen Sohn, dem diese die Vornamen EMMANUEL FÉLIX gab.
Als der leibliche Vater am 25. Juni des Folgejahres 1812 als Oberst des zweiten französischen Linieninfanterie-Regiments im Begriff ist, in russisches Feindgebiet vorzudringen, will er seine privaten Angelegenheiten in Ordnung bringen und verfasst ein Testament, in dem er für den Fall, dass er zu Tode kommt, dem von „Mademoiselle Breda“ geborenen und von ihm anerkannten Sohn Emmanuel alles überlässt, was er besitzt. Und tatsächlich erleidet er am 18. August bei einem Feuerüberfall vor Polotsk am linken Fuß eine Verwundung, die zwar nicht tödlich ist, ihn aber ganz erheblich einschränkt. Er darf nach Besançon, dem Standort seines Regiments, heimkehren und erhält am 2. April 1813 die Erlaubnis, in den Ruhestand treten zu dürfen. Dann zieht er nach Paris, wo er jedoch bereits am 21. Juli 1813 im 34. Lebensjahr stirbt. Letzteres lässt J. P. Allart die folgende – die Peinlichkeit der unehelichen Mutterschaft und Herkunft überspielende – Feststellung treffen: „Voici Cornélie veuve, avant d’être mariée, et Emmanuel Félix, orphelin.“ Frei übersetzt: So ist also Cornélie Witwe, ehe sie überhaupt verheiratet ist, und Emmanuel Fèlix Waise.
Hier sei nun der weitere Lebensgang des Sedangenerals unter Voranstellung der Lebens- und Heiratsdaten dargestellt:
– EMMANUEL FÉLIX DE WIMPFFEN, der am 13. 09. 1811 in Laon (Département Aisne) unter den oben geschilderten widrigen Umständen von der 19-jährigen CORNÉLIE BRÉDA aus Leeuwarden in den Niederlanden geboren worden und am 25. Februar 1884 in Paris gestorben ist und sich dort am 18. 08. 1839 vermählt hat mit der 20-jährigen
– ADÈLE (ADELHEID) EUPHROSINE QUESNEL, geb. 1818, gestorben am 18. 08. 1878 in Vorges/Département Aisne.
Als ADÉLAÏDE CUNÉGONDE DOROTHÉE MARQUETTE DE LA VIÉVILLE von dem Tod ihres Bruders FÉLIX DE WIMPFFEN erfährt, beschließt sie, ihren Neffen EMMANUEL FÉLIX zu sich zu holen und seine Erziehung zu übernehmen. Das Schicksal will es, dass am 6. Januar 1814, d. h. rund ein halbes Jahr danach, ihr Gatte stirbt und sie nunmehr drei Kinder aufzuziehen hat. Da die Folgejahre in finanzieller Hinsicht schwierig sind, entschließt sie sich 1821 in Übereinkunft mit ihrem jüngeren Bruder DAGOBERT SIGISMUND DE WIMPFFEN (1782 – 1862; siehe diesen in der II. Stammtafel in der Generationsreihe XIVc bzw. 12c an 11., d. h. zweitletzter Stelle der Geschwisterreihe), der damals Oberstleutnant der Königlichen Gardedragoner gewesen ist, für ihren Neffen einen Platz in der mit großer Härte und Disziplinierung erziehenden „École royale militaire préparatoire de La Flèche“ (auch „Prytannée militaire“ = Militärvorschule) zu erwirken. Damit würde diesem, der Tradition des Wimpffen-Geschlechts folgend, die bestmögliche Förderung mit dem Ziel der Ausbildung zum Offizier des französischen Heeres zuteil werden. Das Gesuch wird nicht nur befürwortet, sondern mit Rücksicht auf die besonderen Erziehungsumstände sowie darauf, dass der verstorbene Vater den Rang eines Obersten erreicht hatte, darf die Ausbildung des gerade 10 Jahre alt Gewordenen auf Staatskosten erfolgen. Die vom Direktor nach der am 29. September 1821 erfolgten Aufnahme getroffene Feststellung, dass Emmanuel Félix einen für die Aufnahme unzureichenden Bildungsstand besitze, weil er zwar hinreichend lesen könne, doch keinerlei Kenntnisse in Latein und Französisch (Deutsch war demnach seine und immer noch seiner Tante und deren Eltern Mutter- und Umgangssprache gewesen!) aufweise, wird durch eine sechsmonatige Zurückstellung mit Sonderkursen zur Aufholung des Rückstandes überwunden, so dass ein halbes Jahr später die definitive Aufnahme erfolgen kann. Dort bleibt er bis zu seinem 18. Lebensjahr und tritt nach bestandener Abschlussprüfung am 14. November 1829 in die 1802 von Napoleon gegründete berühmte „École royale spéciale militaire Saint-Cyr“ über, deren Devise „Ils s’instruisent pour vaincre“ (Sie lernen, um zu siegen) lautet. Emmanuel Félix gehört dort zusammen mit 146 anderen Offiziersschülern 1830 – 1832 der „Promotion du Firmament“ an. Da er, so stellt er später selbst bedauernd fest, seine Studien vernachlässigt, besteht er die Abschlussprüfung nicht, muss deshalb ein drittes Jahr absolvieren, klassifiziert sich jedoch abschließend unter 122 Schülern an 102. Stelle.
c. Wie Emmanuel Félix de Wimpffen in seiner Militärkarriere bis zum Divisionsgeneral und schließlich zum Oberbefehlshaber der algerischen Provinz Oran aufsteigt und infolge seiner Tapferkeit, Tüchtigkeit und vor allem mehrheitlich in Algerien verbrachten Diensttätigkeit im August 1861 sogar den Titel und Grad des „Grand officier de la Légion d’Honneur“ erlangt.
Er kann sich jetzt Unterleutnant nennen und tritt als solcher im Oktober 1832 in das in Straßburg stationierte 49. Linienregiment ein. Im Sommer 1834 wechselt er in das in Algier stationierte 67. Infanterie-Linienregiment über und wird damit Angehöriger der Armee in Afrika, die im Sommer 1830 mit der Eroberung und Unterwerfung sowie Kolonialisierung von Algerien begonnen hat und insbesondere auf den erbitterten Widerstand der Berberstämme unter Führung des arabischen Emirs Abd el-Kader gestoßen ist. Mit dem Erreichen seines Regiments in Algier ausgangs August 1834 beginnt er dort seinen Dienst, der zunächst zwar nur bis März 1835 geht, dem aber noch drei weitere Verwendungen in Algerien folgen werden, womit er letztlich dort rund 17 Jahre in höchst verdienstvoller Weise für sein Vaterland Frankreich tätig sein wird. Er erlebt seine Feuertaufe im Herbst 1834 im Schlachtengeschehen bei Bouffarick (Westalgerien), in dem sein Regiment ganz besonders der hervorragend kämpfenden arabischen Kavallerie-Guerilla der sog. Hadjoutes die Stirn bietet. Nach weiteren Kampfeinsätzen insbesondere gegen die aufständischen Rif-Kabylen wird sein Regiment im April 1835 nach Frankreich zurückverlegt, wo er dann in wechselnden Garnisonsstädten öd empfundenen Kasernendienst leistet, in seiner Freizeit sich aber im Militärischen fortbildet, mehrere Jahre die Schulungen seines Regiments leitet und im Frühjahr 1837 zum Leutnant des 67. Linienregiments befördert wird. 1839 lernt er bei einem Aufenthalt in Paris die aus einer ehrbaren Familie stammende 20-jährige ADÈLE EUPHROSINE QUESNEL kennen, die er im August heiratet und die 60.000 Francs in die Ehe bringt. Im September danach wird er im vorgenannten Regiment zum Hauptmann befördert.
Zur Durchsetzung der Eroberung Algeriens sowie der Unterdrückung der immer wieder aufflammenden Aufstände wird zunächst neben mehreren Kavallerieregimentern des Namens Chasseurs d’Afrique ein aus drei Bataillonen bestehendes Infanterie-Korps aus einheimischen Söldnern gebildet, den nach einem Kabylen-Stamm benannten sog. Zuaven, deren malerische Uniform an die türkisch-orientalische Tracht angelehnt gewesen ist. 1841 kommt noch ein Bataillon der sog. Tirailleurs algériens indigènes d’Alger et de Titteri hinzu, die wegen ihrer ebensolchen Tracht mit dem Spitznamen Turkos belegt werden. Die Mannschaften dieser Einheiten unterstehen natürlich französischen Offizieren und großteils auch französischen Unteroffizieren. Hauptmann de Wimpffen wird im Juni 1842 der letztgenannten Einheit zubeordert und kehrt somit nach Nordafrika zurück, wo er dann ein Jahrzehnt bleiben und seine Führungsqualitäten unter Beweis stellen wird. Sein auffallender Mut, sein Draufgängerrtum und seine große Tapferkeit bei verschiedenen Einsätzen insbesondere der Eroberung von Stützpunkten der Aufständischen führen dazu, dass er ausgangs Juni 1844 auf Veranlassung des Generalgouverneurs von Algerien Marschall Bugeaud zum „Chevalier de la Légion d’honneur“ („Ritter der Ehrenlegion“) ernannt wird, womit die Verleihung der ersten (= untersten) Stufe des auf der Brust getragenen Ordens am Band verbunden ist. Und auch in den Folgejahren sticht den Vorgesetzten immer wieder die große Liebe zu seinem Metier und die große Tapferkeit ins Auge, die Hauptmann de Wimpffen bei den geführten vielerlei Gefechten an den Tag legt. Schließlich wird er im April 1847 zum Bataillonschef im 44. Linieninfanterie-Regiment und im Juli 1848 zum solchen seiner früheren Einheit der Tirailleurs indigènes d’Algier ernannt. Diese bildet er, der von seinen Turkos verehrend Ba-Ba (Papa) genannt wird, im Rahmen der vielen Kämpfe in den erneut aufflammenden Unruhen zu einer herausragenden Truppe heran. So wird er ausgangs Juli 1849 zum „Offizier der Ehrenlegion“ (zweite Stufe) ernannt und dadurch das Band seines Ehrenkreuzes auf der Brust mit einer Rosette ausgestattet. Nachdem er bei den anschließenden Operationen gegen den immer wieder sich der französischen Beherrschung widersetzenden Volksstamm der Kabylen große Kompetenz und Tapferkeit und sein Turko-Bataillon sich gleichwertig mit französischen Bataillonen bewiesen hat und er 1851 als „ein ausgezeichneter … Offzier von hoher Intelligenz und konstanter Hingabe für alle seine höchsten Erfolg bringenden Reformvorhaben“, der „Beförderung verdient“, bewertet wird, erfolgt im September 1851 seine Ernennung zum Oberst im ebenfalls in Algerien stationierten 68. Linieninfanterie-Regiment. Im August des Folgejahres 1852 wird er zum in Paris stationierten 13. Linieninfanterie-Regiment versetzt und erhält die Erlaubnis, sich 30 Tage nach Laon, seinem Geburtsort, zu begeben.
Als 1853 das Osmanische Reich (Türkei) Russland wegen dessen Vordringens auf dem Balkan den Krieg erklärt und Frankreich und England im März 1854 sich angeschlossen haben und so der sog. Krimkrieg (1853/54 – 1856) im Entstehen begriffen ist, erklärt der Oberst de Wimpffen, befragt wegen seiner Sachkenntnis und Erfahrung, dass die Turkos, die Zuaven eingeschlossen, mit den allerbesten Truppen Frankreichs und selbst auf europäischen Kampfesfeldern Schritt halten könnten. So kommt ihm der Auftrag zu, sich wieder nach Algerien zu begeben und aus diesen und weiteren Freiwilligen ein Regiment zusammenzustellen. Es umfasst zwei Bataillone, nämlich das weniger große Bataillon de Constantine und das größere Bataillon d’Alger et d’ Oran mit insgesamt 2.000 Mann und erhält den Namen „Régiment de Tirailleurs algérien“, dessen Kommando ihm im März 1854 übertragen wird. Von Kaiser Napoleon III. bekommt dieses am 9. März 1854 eine Fahne gestiftet, die von Emmanuel Félix de Wimpffen im Rahmen einer großen Militärparade im nordalgerischen Kolea von Marschall de Saint-Arnaud, dem Kommandanten des französischen Korps, übergeben wird. De Wimpffens Regiment landet bald danach in den Dardanellen bei der Halbinsel Gallipoli an, nimmt am Krimkrieg teil und zeichnet sich wie sein Kommandant in den folgenden Kampfabschnitten aus:
– Zunächst in der Schlacht nahe Sewastapol am Fluss Alma im September 1854, wo die französich-britisch-türkisch-piemontesischen Verbündeten den russischen Truppen gegenüberstehen und in den letzten Phasen des Schlachtengeschehens insbesondere die Zuaven der Armée d’Afrique entscheidend zum Sieg beitragen.
– Dann in der im November 1854 stattfindenden Schlacht bei Inkerman (Festung im Südwesten der Halbinsel Krim), in der bei der Verfolgung des Feindes de Wimpffens Pferd unter ihm getötet wird und nach der General Bosquet in seinem Bericht anerkennend schreibt, dass „der Oberst de Wimpffen an der Spitze seiner Schützen springend gleich Panthern mitten durch das Dickicht auf die Russen losstürzte“.
– Danach bei der im September 1855 erfolgten blutigen Erstürmung des Forts Malakow bei Sewastopol, wo die zunächst in Reserve stehende Brigade de Wimpffen am Schluss in den wachsend verbissenen Kampf tritt und nach der Eroberung des Forts die bedrängenden russischen Gegenangriffe in der Schlucht von Malakow insbesondere durch den harte Zurückschlagen der Tirailleurs d’algériens zurückgewiesen werden.
– Zuletzt bei der Eroberung der drei Forts der einstigen Felsenfestung Kinburn an der Mündung des Dnjepr im Oktober 1855.
Oberst de Wimpffens und seines 2. Turko-Bataillons Einsatz in den vorgenannten Kämpfen zieht bereits im Oktober 1854 nach der Schlacht an der Alma seine Ernennung zum „Kommandeur der Ehrenlegion“ (3. Stufe) nach sich, woraus sich jetzt das Tragen des Ordens am Halsband ergibt. Die vorbildhafte Führung seiner Truppe in der Schlacht bei Inkermanm bringt ihm im März 1855 den Rang eines Brigadegenerals ein. Und im Februar 1856 wird ihm die Kommandantur der in Paris stationierten 2. Infanterie-Brigade der Kaiserlichen Garde der 1. Infanterie-Division übergeben, die er im Juni nach dem Friedensschluss übernimmt.
Im mit Österreich geführten sog. Italienischen Krieg 1859 (auch Sardinischer Krieg oder Zweiter italienischer Unabhängigkeitskrieg) nimmt er insbesondere an der Schlacht bei Magenta und Buffalora (in der Provinz Mailand) am 4. Juni 1859 mit den vier von ihm kommandierten Regimentern der Kaiserlichen Garde teil, wo er am Fuß leicht verwundet und der Sieg teuer mit hohen Verlusten auch seiner Chasseurs d’Afrique erkauft wird.
Hier sei mit der
- Abb. A 22: Emmanuel Félix de Wimpffen, Ausschnitt aus dem Gemälde „Chasseurs d’Afrique“ von Clara von Wimpffen, geb. Both von Botfalva und Bajna (geb. am 12. Dezember 1907 in Iklad-Domony/Ungarn, gest. am 27. Mai 2000 in Bakonyság/Ungarn),
eine Darstellung eingefügt, die aus der Hand der Mutter des in Bad Wimpfen 1982 Wohnsitz genommenen damaligen Stellvertretenden Leiters der Abteilung Gesundheit im Bayrischen Fernsehen Dr. Hans H. von Wimpffen stammt. In dieser ist die Person des Genannten, der im Italienischen Krieg des Jahres 1859 im Rahmen seiner Funktion als Kommandeur einer Infanteriebrigade der Kaiserlichen Garde auch das Kommando der Chasseurs d’Afrique innnegehabt hat und fünf Jahre zuvor mit dem Halsorden des Commandeur de la Légion d’Honneur ausgezeichnet worden ist, einfühlsam nachempfunden und gekonnt dargestellt.
Der von ihm am Tag der Schlacht gezeigte beständige Einsatz und die gewohnte Tapferkeit bewirken, dass er am Folgetag zum Divisionsgeneral der ersten Abteilung des Generalstabs der Armee ernannt wird. Als solcher wird ihm das Kommando über die für eine Landung in Venedig bestimmten Truppen aller Gattungen anvertraut und gelangt er in der zweiten Juliwoche an Bord des Admiralsschiffes von Rimini an der Adria her bis vor diese Stadt. Zur Landung lässt es jedoch der wenige Tage danach geschlossene Friede nicht mehr kommen. Mitte August 1856 wird ihm, seinen Wünschen entsprechend, das Kommando über die 1. Infanterie-Division der Armee von Lyon übertragen. Er darf dann in der ersten Hälfte des Januar 1860 an einem in Genf stattfindenden Familientreffen teilnehmen, wo einer seiner vielen Vettern, der österreichische GENERALFELDZEUGMEISTER FRANZ EMIL LORENZ GRAF VON WIMPFFEN (1797 – 1870), damals Militärgouveneur der österreichischen Provinz Triest, der 19-jährigen GRÄFIN KAROLINE VON LAMBERG (1830 – 1883) seinen Sohn ALPHONS GRAF VON WIMPFFEN (1828 – 1866; gestorben nach seiner schweren Verwundung im preußisch-österreichischen Krieg) verspricht. Hier sitzen sich am Tisch friedlich zwei Generäle des Namens von Wimpffen gegenüber, die sich im kurz zuvor zu Ende gegangenen Italienischen Krieg als Gegner gegenübergestanden haben. In den Folgejahren 1861 bis 1864 übt Emmanuel Félix de Wimpffen die Funktion eines Generalinspekteurs zuerst des 16., dann des 17., später des 5. Infanterie-Arrondissements aus, was die laufende Inspektion einer Vielzahl von in Städten Frankreichs stationierten Lineninfanterie-Regimentern erforderlich macht. Dazwischen, im August 1861, wird er zum „Grand officier de la Légion d’Honneur“ ernannt (4. Stufe) und trägt jetzt zusätzlich zum Orden am Band auf der linken Brust noch einen Ordensstern auf der rechten Brust. Hierzu sei gezeigt:
- Abb. A 23: R. Brendamour, General v. Wimpffen, undatierte Portraitdarstellung.
Diese zeigt diesen auf der Höhe seines Ruhmes mit seinen vielen Ordensauszeichnungen, darunter dem Orden am Band am Hals mit Ordensstern auf der rechten Brust des Grand Officier de la Légion d’Honneuer (Großoffizier der Ehrenlegion), über welchem nur noch das Großkreuz (Grand-Croix de la Légion d’Honneur) mit Ordensstern auf der linken Brust, dazu Ordensband, getragen über der rechten Schulter, als 5. und höchste Stufe dieser Ordensreihe stand.
Außerdem führt er vorübergehend das Kommando über die 3. Infanterie-Division des 1. Armeekorps in Paris. Auf seine Bitte hin wird ihm im März 1865 das Amt des Oberbefehlshabers der Provinz Algier in Vertretung von General Yusuf übergeben. Somit kehrt er im April nach Algerien zurück, das seit seinem Weggang vor 12 Jahren einigermaßen befriedet und mehr und mehr von hauptsächlich in den Städten lebenden Kolonisten besiedelt ist. Einige Wochen nach seiner Ankunft wird ihm das Amt des Generalinspekteurs des 23. Infanterie-Arrondissements übertragen, das ihm auch in den Folgejahren bis 1870 zuerkannt bleibt. In dieser Funktion hat er vor allem zahlreiche in Algerien stationierte Regimenter und Kompanien zu inspizieren, jedoch nach einem Dekret des Jahres 1864 auch zivile Aufgaben zu erfüllen. Er vertritt die Ansicht, dass an die Stelle der militärischen Beherrschung die Entwicklung der Landwirtschaft und des Gewerbes treten müsse, und sucht, den ihm alle seine Zeit beanspruchenden Tätigkeiten, wie er zu sagen pflegt, nach dem Wahlspruch „Paix et justice aux vaincus“ (Friede und Gerechtigkeit den Besiegten) nachzukommen. Im Juni 1869 wechselt er von der ostalgerischen Provinz Algier in die westwärtige der zwei Provinzen Algeriens über, nachdem er zum Oberbefehlshaber der Provinz Oran, General Deligny ersetzend, bestellt worden ist. Dort kommt er bald zu der Erkenntnis, dass die Bevölkerung der Südgebiete von den feindseligen marokkanischen Stämmen, insbesondere der großen gewalttätigen Sippe der Ouled-Sidi-Cheikh, dazu von algerischen Dissidenten bedroht wird. Immer wieder wird die Habe der Bevölkerung geplündert und manchmal werden Teile derselben sogar gezwungen, ihre Wohnplätze zu verlassen. Da die französischen Militäreinheiten die in die Wüste flüchtenden Plünderer nicht fassen könnten und die Autorität der Franzosen dadurch verspottet werde, müsse, so De Wimpffen, mit harter Bestrafung dagegengehalten werden. Es gelingt ihm, den Generalgouverneur in Algerien MARSCHALL MAC-MAHON von der Notwendigkeit der sog. „Expédition de l’Oued Guir“ (Oued Guir ist ein Wadi im algerisch-marokkanischen Grenzbereich) zu überzeugen. So bricht er Ende Februar 1870 mit sage und schreibe 1.800 bis 2.000 Infanteristen, 1.200 Reitern, 600 bis 700 einheimischen Söldnern, 3 Abteilungen Artillerie und für den Transport des Materials, der Nahrung und des Wassers 2.200 Kamelen Richtung Südwest auf und legt jeden Tag 17 – 25 km zurück. Der Hauptkampf im Zielbereich des Oued-Guir zwischen der Truppe De Wimpffen und jener der Rebellenstammes zur Verfügung stehenden 8.000 Bewaffneten, die sich in den Dünen über dem Wadi festgesetzt haben und höchsten Widerstand leisten, findet Mitte April 1870 statt und endet mit dem Verlust von 24 Toten und 27 Verwundeten auf französischer Seite und zwischen insgesamt 400 bis 500 solchen auf der Seite der arabischen Stammesangehörigen und deren teilweiser Unterwerfung. Die Strafexpedition, bei der die Truppe fast 1.500 Kilometer zurücklegt, bewirkt in dem aufrührerischen Gebiet allerdings nur eine momentane, keinesfalls dauerhafte Ruhe.
d. Wie Emmanuel Félix de Wimpffen innerhalb von acht dramatischen Tagen den Aufstieg in den Rang des Generals eines Armeekorps der französischen Sedanarmee sowie noch weiter des Oberbefehlshabers derselben in der Endphase der unaufhaltbar verloren gehenden Schlacht erringt.
Im Laufe des Mai 1870 nach Oran zurückgekehrt, wird Emmanuel Félix de Wimpffen von der Möglichkeit eines Krieges mit Preußen informiert und am 19. Juli setzt die französische Kriegserklärung diesen in Gang. Wie in diesem Krieg die deutschen Truppen unter dem Oberbefehl des Generals der Infanterie und Chef des Generalstabes und großen Strategen HELMUT VON MOLTKE (1800 – 1891) in beiderseits verlustreichen Schlachten im August siegreich in Frankreich eingedrungen sind, ist am Ende des vorangehenden Kapitels A1 bereits ausführlich auf dem Hintergrund der sich in Wimpfen damals abgespielten Ortsereignisse geschildert worden. Und nun im ausgehenden August des Jahres 1870, beginnen diese, nachdem sie ab dem 25. August in ihrem Vordringen Richtung West einen – von den Truppen zunächst in keiner Weise verstandenen – strategischen Schwenk Richtung Nord hatten vollziehen müssen, die Festungsstadt Sedan an der Maas einzuschließen. Um und in diese hatte sich die unter dem Befehl von MARSCHALL MAC-MAHON stehende Armee von Châlons, am 31. August, erschöpft von den aufreibenden Kämpfen, hinbegeben, die dadurch zur Armee von Sedan wird. Dort findet sich auch, unglücklicherweise schicksalbestimmend, der französische KAISER NAPOLEON III. ein, der, entmutigt von der Kette der Niederlagen und seelisch wie körperlich am Zerbrechen, die zunächst innegehabte Führung der Armee am 12. August bei Metz an MARSCHALL BAZAINE abgegeben hatte und, wie er jetzt in seiner Proklamation sagt, die Rolle des Soldaten der des Souverains vorgezogen hat. Der deutsche GENERALSTABSCHEF HEMUTH VON MOLTKE, der den Rechtsschwenk nach Norden gegenüber allen Zweiflern initiiert hat, frohlockt: „Nun haben wir sie doch in der Mausefalle.“
Die nunmehr beginnende genaue Schilderung des, wie die nachfolgend fett hervorgehobenen Datenangaben zeigen, auf kaum zehn Tage beschränkten Vorganges des gewaltigen plötzlichen Aufstieges des EMMANUEL FÉLIX DE WIMPFFEN zum Oberbefehlshaber dieser Sedanarmee wie seines ebensolch raschen Fallens stützt sich großteils auf die höchst umfangreiche Dokumentation des Journalisten und Schriftstellers THEODOR FONTANE „Der Krieg gegen Frankreich 1870 – 1871 .. I. Band: Der Krieg gegen das Kaiserreich“, 1873, S. 476 – 633. Dieser versteht es, das Drama mit Verve minutiös zu schildern und die Handlungsweise sowie Persönlichkeit desselben unter Berücksichtigung des Für und Wider psychologisch klar und überzeugend ins Bild zu setzen und zu beurteilen. Dazu sollte man wissen, dass Fontane im Krieg 1870/71 vom Verleger und Eigentümer der Berliner „Königlichen Geheimen Oberhofdruckerei“ beauftragt worden ist, die im Krieg von 1866 begonnene Reihe seiner Kriegsbücher fortzusetzen, auch die Schauplätze des Krieges zu besuchen begonnen hat, aber in der Nähe von Toul an der oberen Mosel unter falschem Verdacht als Spion verhaftet und erst nach zwei Monaten wieder auf freien Fuß gesetzt worden ist. Doch hat er im Frühjahr 1871 dann die Stationen des Feldzuges in Nordfrankreich und Elsass-Lothringen in einer sechswöchigen Fahrt durch die noch besetzten Gebiete aufgesucht und akribisch recherchiert, dann auch darüber in einem dreibändigen Werk ausführlichst stellungsbeziehend berichtet.
DE WIMPFFENS Ehrgeiz, so Fontane, geht vom Beginn des Krieges an dahin, an die Spitze eines Armeekorps oder doch mindestens einer vor dem Feinde stehenden Division gestellt zu werden. MARSCHALL MAC-MAHON, bislang in Algier ihm vorgesetzt als General-Gouverneur Algeriens amtierend, doch jetzt zum Oberbefehlshaber der Armee von Châlons aufgestiegen, weiß ihn aber in Algerien zurückzuhalten. Ob hier Eifersüchtelei im Spiel ist, wie Wimpffen selbst meint, und Mac-Mahon Wimpffen als Nebenbuhler fürchtet oder umgekehrt dieser bei Wimpffen ein Missverhältnis zwischen Anspruch und Begabung erkennt, muss offen bleiben. Fontane: „Unter der Versicherung, daß Algerien ‚durchaus einen Mann von Kriegserfahrung und Charakter erheische’, hat der Marschall wiederholentlich auf die Dienste Wimpffen’s verzichtet.“ Nach der Niederlage von Wörth und Spichern, die man zum Teil GENERAL DE FAILLY anlastet,weil dieser mit seinem 5. Korps nicht zu Hilfe gekommen ist, sieht Wimpffen jedoch seine Stunde gekommen und er bittet KRIEGSMINISTER GRAF PALIKAO in einem Brief erneut um seine Verwendung vor dem Feinde. Die positive Antwort in einem am 22. August 1870 eingegangenen Telegramm lautet, er solle sich sofort nach Paris begeben, es handle sich darum, General de Failly im Kommando des 5. Korps zu ersetzen. Am 28. August über Marseille in Paris mit der Eisenbahn angekommen, bespricht der Kriegsminister mit ihm rückhaltlos die prekäre militärische Lage und richtet dann aber die Frage an Wimpffen, ob er es nicht doch vorziehe, auf das Kommando des 5. Korps zu verzichten und das in Bildung begriffene 14. Korps zu übernehmen. Doch der lehnt das Angebot ab. Und somit kann Wimpffen am 29. August in Begleitung zweier ihm zugeordneter Offiziere per Eisenbahn nach Sedan zur Übernahme seiner neuen Funktion aufbrechen. Und er hat sogar ein ihm vor der Abreise zugestelltes dienstliches (folgenschweres!) Schreiben Palikaos bei sich, das ihn, den Ältesten unter den Korps-Generalen, ermächtigt, für den Fall, dass GENERAL MAC-MAHON ein Unglück zustoßen sollte, den Befehl über die diesem unterstellten Truppen zu übernehmen.
In Soissons im Département Aisne, seiner speziellem Heimat, angekommen, erlässt er kurzerhand an die Bewohner eine patriotische Proklamation und reist dann raschestens weiter nach Reims. Im Kriegswirrsal des Bahnhofstreibens entdeckt er dort einen für die Rückkehr nach Paris bestimmten Kavallerie-Trupp von 25 Mann. Fontane: „Mit jener raschen Entschlossenheit, die einen Hauptzug seines Charakters bildete, bemächtigte er sich dieses Husarentrupps, änderte die Marschrichtung desselben und befahl dem Leutnant … und seinen Leuten, ihm als Escorte zu folgen. Dies geschah. … Vor allem aber glaubten wir dieses Vorganges … wie auch der zu Soisson im Nu abgefaßten Proclamation … deshalb erwähnen zu müssen, weil sich hierin genau dasselbe Verfahren zu erkennen giebt, das er drei Tage später … auf dem Schlachtfelde von Sedan inne hielt. Ein ebenso dem Temperament wie der Gewohnheit entsprechendes, energisches Drunterfahren, das in kleinen Verhältnissen meist Wunder wirkt, aber freilich nicht ausreicht, eine mit 300,000 Soldaten gespielte Schachpartie zu gewinnen.“ In Rethel kaum angekommen, läuft der Schreckensruf „Des Ulans“ durch die Straßen. Doch kann die schwache preußische Patrouille durch den Schutz der vereinnahmten Husarenescorte de Wimpffen nichts anhaben. Jetzt wird die bisherige Eisenbahnfahrt zu Pferd durch Gebiete fortgesetzt, die bereits von den Heereseinheiten schleierartig weit vorausgeschickter preußischer Kavallerie durchschwärmt sind. Eine in einem Waldstreifen entstehende plötzliche Kollision, bei der Wimpffen vom Pferde geworfen wird, entpuppt sich glücklicherweise als Begegnung mit einer Gruppe Franctireurs (französischer Freischützen) und nicht, wie zunächst geglaubt, mit preußischer Kavallerie. Im Dorfe Signy-L’Abbaye gibt sich der Maire (Bürgermeister) als der zu erkennen, der das Freischützenkorps gebildet und an der Waldecke postiert hat. Diesem schüttelt Wimpffen die Hand und beglückwünscht ihn zu seinem patriotischen Eifer. Fontanes Einschätzung: „Eine kleinlicher geartete, minder enthusiastische Natur würde außer Stande gewesen sein, den Zwischenfall, der halb unbequem, halb lächerlich war, so frank und frei und so mit Worten der Anerkennung zu behandeln.“
Als am 30. August frühmorgens das rd. 20 km nordwestwärtig von Sedan gelegene Mezières (siehe die ab hier genannten Orte etc. großteils in der nachfolgenden Abb. A 23) erreicht ist, gesellt sich dort ein Rittmeister zu der nun vier Offiziere als Adjudantur und Ordonnanz umfassenden Begleitgruppe und geht die Reise wieder per Eisenbahn weiter. Gegen Mittag fährt der Zug merkwürdigerweise ohne Halt über den Zielort Sedan hinaus bis zu dem rd. 3 km südsüdöstlich davon gelegenen Bazeilles, wo nun eine Art Vorspiel zum Drama um den Aufstieg Wimpffens zum Korps-General durch Verdrängung de Faillys und schließlich Ersetzung Mac-Mahons als Oberbefehlshaber der Sedan-Armee beginnt. Denn dieser steigt jetzt wieder kurzentschlossen zu Pferd und rekognostiziert in einem Ritt, der über die Ufer der Maas hüben und drüben und weit über den ostwärtigen Nebenfluss Chiers hinweg südostwärtig bis zum um die 10 km entfernten Amblimont geht und ihn in den Mittagsstunden Augenzeuge des auf die Festung Sedans zugehenden fluchtartigen Rückzugs der französischen Truppen werden lässt. „Wimpffen – auch darin wieder ganz sich selbst – vermochte diesem tristen Schauspiel nicht anzuwohnen, ohne einzugreifen und die Fluth der Flüchtigen zurückzustauen. Binnen kürzester Frist hatte er mehrere Tausende, die den verschiedensten Corps angehörten, um sich versammelt, nahm mit ihnen starke Position in der Nähe von Mairy und schickte mehrfach schriftliche Meldung an den Marschall, worin er diesem anzeigte, daß er da sei, daß er mit einigen tausend Mann die Position zwischen Mairy und Amblimont halte und daß er um Befehle bitte. Endlich um 9 Uhr Abends kam Ordre: Rückzug auf Sedan. – Auch hier wieder hatte er sich bewährt und mit der ihm eigenen Impetuosität (wobei Anderer Anordnungen sehr oft gekreuzt wurden) gehandelt und durchgegriffen. In Allem spricht Eifer und Umsicht, patriotischer guter Wille und rasches Erkennen des local und momentan Nöthigen, aber doch auch zugleich ein Selbstvertrauen und befehlerischer Hang aus, der von den übrigen Generalen, und ganz besonders vom Marschall selbst, fast wie eine Beleidigung, gewiß wie eine Bedrückung empfunden werden mußte. Er war noch nicht eingeführt, war kaum etwas anderes als ein ‚General auf Reisen’ und nahm aus dem Stegreif Allüren an, als sei er erschienen, um endlich nach dem Rechten zu sehen und den ewigen rückgängigen Bewegungen ein Ende zu machen. Es ist höchst wahrscheinlich, daß der Marschall die Dinge von diesem Gesichtspunkt aus ansah und am Morgen des 1., als er, um seiner Verwundung willen, das Commando abgeben mußte, auch aus einem persönlichen Antagonismus Wimpffen überging und Ducrot zum Nachfolger wählte.“
Am späten Abend des 30. in Sedan eingetroffen und nach langem Suchen in der überfüllten Stadt in einem Zimmer des Hotels „Croix d’or“ mit seinen vier Ordonnanz-Offizieren untergekommen, stellt er sich am 31. früh 9 Uhr dem MARSCHALL MAC-MAHON vor und wird ziemlich kalt empfangen. Er bittet, ihn dem 5. Korps vorstellen zu wollen, zu dessen Kommandant er ernannt worden sei. Im Wissen darum, dass er von den Generalen der Sedanarmee wie eine Art Eindringling angesehen und in der Erwartung, dass die Notwendigkeit einer Ersetzung Mac-Mahons aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso nicht eintreten werde, schweigt er sich über das empfangene Schreiben der Übertragung des Oberbefehls an ihn im Falle des Ausfalls von Marschall Mac-Mahon aus. Der Marschall verspricht, der Bitte Wimpffens nachzukommen, und steigt zu Pferd. Als dieser bis um 1 Uhr offenbar noch nichts in dieser Sache getan hat, geht Wimpffen selbst zum Vieux Camp, dem an die Festungsstadt im Nordosten angelehnten Lagerpatz des 5. Korps, hinaus und gibt sich den Offizieren und Soldaten als ihr neuer Oberbefehlshaber zu erkennen. In eben diesem Augenblick erscheint General DE FAILLY, der von seiner Absetzung weder Ahnung noch Kunde hat. Der peinlichen Situation folgen bittere Worte, die sich freilich zunächst mehr gegen die Urheber der Maßregel als gegen Wimpffen richten, diesen aber immerhin mittreffen müssen. Danach kehrt Wimpffen in die Stadt zurück, um sich KAISER NAPOLEON vorzustellen. Dieser nimmt ihn bei der Hand und fragt ihn unter Tränen nach den Gründen der dauernden Niederlagen. Wimpffen meint dazu, dass die Armeekorps in Nähe des Feindes immer in zu großer Entfernung voneinander stünden und Befehle schlecht gegeben und schlecht ausgeführt worden sind. Auf Wimpffens Frage, warum er so spät zur Übernahme eines Kommandos berufen worden sei, weist der Kaiser auf Mac-Mahon hin, der darauf bestanden habe, ihn in Algerien zu belassen, um die Ruhe in der Provinz zu gewährleisten. Die Zwiesprache endet wie folgt: „Ich bedaure, Sire, erst nach so schweren Mißgeschicken eintreffen zu dürfen. Aber rechnen Sie auf meine Energie; ich werde Alles daran setzen, die Unfälle auszugleichen.“ – Der Kaiser: „Ich weiß, daß ich darauf rechnen kann.“
Nach einer jetzt folgenden kurzen Begegnung mit dem Marschall begibt sich Wimpffen wieder hinaus in das Lager des 5. Korps, um einzelne Ordres zu geben; dann sucht er den Schlaf. Doch das unbequeme Lager, die Kälte und noch mehr die Erregungen über die beiden Begegnungen mit der mehr abgeneigten denn wohlwollenden Haltung sowie vor allem dem Ausschweigen des Marschalls über seine Vorhaben verweigern ihm die Ruhe. „Endlich“, so schreibt er selbst, „stieg die Morgenröthe des 1. September herauf. Um 4 Uhr hört’ ich lebhaftes Gewehrfeuer von Bazeilles her. Die Schlacht hatte begonnen.“ Der gegenüber Wimpffen schweigsame Oberbefehlshaber MAC-MAHON weiß, was die Kartendarstellung der
- Abb. A 24: Der Vollzug der Einkreisung der Französischen Armee von Châlons durch die Deutsche Vierte sog. Maas-Armee in der Schlacht von Sedan vom Abend des 31. August bis zur Mittagszeit des 1. September sowie deren weiteres Vordringen am Nachmittag desselben Tages
zeigt: Dass nämlich der von den rasch vordringenden sechs deutschen Armeekorps und deren zahlreichen Batterien Artillerie gezielt angesetzte Einschließungsgring sich im Raum Illy im Norden mehr und mehr zu schließen beginnt und es somit jetzt nicht mehr um einen Sieg, sondern nur noch um ein Entkommen gehen kann. Wie der Marschall später aussagt, verfolgt er den ihm am aussichtsreichsten erscheinenden Plan, im Südosten bei Bazeilles durchzubrechen, wo der beidseits ungewöhnlich harte Entscheidungskampf gegen die südöstliche Eckbastion um Sedan in der Morgenröte des 1. September tobt, und sich zum belagerten Metz durchzuschlagen. Dessen ein Stück westlich von La Moncelle um 6 ¼ Uhr durch einen Granatsplitter eintretende Verwundung mit nachgefolgten Ohnmachten bewirken, dass die Ausführung dieses Planes, wenn er überhaupt bestanden hat, sich um ca. 3 Stunden verzögert.
Wieder zu sich gekommen, sucht MARSCHALL MAC-MAHON zu entscheiden, wem er den Oberbefehl übertragen soll. In Unkenntnis der von Kriegsminister Palikao an Wimpffen ergangenen Weisung entscheidet er sich, die Anciennität Wimpffens hintenan stellend, für den das 1. Korps führenden zweitältesten GENERAL DUCROT. Denn Wimpffen ist vor kaum zwei Tagen bei der Armee eingetroffen, kennt nach Lage der Dinge weder das Terrain, noch die Stellung der Truppen in ihrer Gesamtheit. Hinzu kommt die mangelnde persönliche Sympathie. Um 7 Uhr wird der sich weiter nördlich bei seiner Truppe befindliche General Ducrot ins Bild gesetzt und der nimmt die Bestellung an. Nach der Einschätzung Fontanes ist diese Entscheidung vom französischen Standpunkt aus eher als ein Glück denn als ein Unglück zu betrachten. Denn dieser sieht die Gesamt-Situation mit anderen Augen an als Mac-Mahon, und zwar mit den richtigen Augen. Er sieht, dass im Norden um Illy die Mausefalle der Einschließung noch offen ist und setzt somit auf den Abzug über diesen Ort mit anschließendem Flankenmarsch Richtung West auf Mezières. Sofort erlässt er die dementsprechenden Befehle: Das Gros der französischen Armee beginnt Richtung des nordwärtigen Illy abzurücken, während die verbleibenden Einheiten die Sicherung dieses Abzugs übernehmen und später gestuft nachrücken sollen. Als KAISER NAPOLEON gegen 8 Uhr von seiner Besichtigung von Stellungen auf der Höhe von La Moncelle zurückkehrt, bemerkt er zu seinem Erstaunen den plötzlichen Abzug von Truppen, die er zuvor noch unerschüttert in starken Stellungen wähnte. Als er sich von Ducrot den Grund dafür mitteilen lässt, gibt er sich, ohne den Plan Ducrots zu durchkreuzen, zufrieden.
Nicht so GENERAL DE WIMPFFEN. Dieser erhält zwar um 7 ¼ Uhr Kenntnis von den Vorgängen um Mac-Mahon und Ducrot, unternimmt aber zunächst nichts, seine aus dem dienstlichen Schreiben des Kriegsministerts Palikao sich ergebenden Ansprüche auf das Kommandeuramt der Armee bei Ducrot unverzüglich geltend zu machen. Der Grund: Genau wie der Kaiser und wie der außer Gefecht gesetzte Mac-Mahon sieht er die Rückwärtsbewegung der Einheiten im Südostbereich bei Bazeilles als eine durch nichts motivierte Aktion an. Und so tritt er fürs Erste gegen 8 ¼ Uhr oder etwas später den aus ihrer Bazeille-Position eben abziehenden Regimentern der DIVISION GRANDCHAMP entgegen, legitimiert sich diesen als ernannter Oberfeldherr „der Armee von Châlons“ und gibt Befehl, in die alten, eben aufgegebenen, Stellungen zurückzukehren. Dann erst, um etwa 8 ½ Uhr, macht er sich daran, Ducrot eine schriftliche Meldung folgenden Inhalts zu schicken: Er sei seitens des Kriegsministers Palikao zur Übernahme des Kommandos, für den Fall, dass Marschall Mac-Mahon von einem Unfall betroffen werde, autorisiert worden. Indem er sich vorbehalte, nach der Schlacht mit dem General noch weitere mündliche Rücksprache zu nehmen, bemerke er doch schon jetzt, dass er das Aufgeben der Stellung Bazeilles-Givonne in einem Augenblick, wo der Feind hier keine Fortschritte mache, nicht gutheißen könne. Er habe daher abziehende Regimenter des 12. Korps in ihre alten Positionen zurückbeordert. Das Schreiben schließt mit der Aufforderung, das 1. Korps in der ihm zugewiesenen Gefechtslinie bei Givonne zu belassen und das rechts neben diesem fechtende 12. Korps lebhaft zu unterstützen.
Ducrot, der dieses unerwartete Schreiben um ¾ 8 Uhr in die Hände bekommt, begibt sich sofort zu Wimpffen und erklärt demselben gegen etwa 9 Uhr oder wenig später, dass er sich seinem Befehl unterstellen wolle, erklärt aber zugleich Folgendes: Er glaube den Feind und dessen Absichten besser zu kennen und beschwöre ihn um des Wohles der Armee willen, die Rückzugsbewegung Richtung Nord auf Illy weiter fortsetzen zu lassen. Es sei zu befürchten, dass das 1. Korps auf seinem linken Flügel bald umgangen sein werde. Die Bestätigung seiner Befürchtung gehe aus einem Brief des Maire von Villers Cernay hervor, der den Durchmarsch starker feindlicher Massen melde. Ducrots Beschwörungen sind umsonst. Wimpffen, dem Ducrot nach seiner späteren Buchaussage sogar erklären muss, wo Illy liegt und welche strategische Bedeutung dieses in Bezug auf den schmalen Raum zwischen der Maasschleife und der nahen belgischen Grenze besitzt, sieht die Notwendigkleit eines Rückzugs nicht ein. 12. und 1. Korps seien stark genug, um alles écrasieren (vernichten) zu können, was der Feind ihnen entgegenstelle. Nachdem aber der anwesende Kommandierende des 12. Korps, GENERAL LEBRUN, mehr auf Wimpffens Seite tritt, ordnet sich Ducrot schließlich doch unter und sagt zu, die bereits abgerückten Divisionen in ihre alten Stellungen zurückbeordern zu wollen. Dazu die Einschätzung Fontanes: „In gewissem Sinne war das Einrücken Wimpffen’s in das Obercommando nichts anderes als die Wiederaufnahme des Mac-Mahon’schen Plans, der durch die fünfviertelstündige oder ausgedehntesten Falls durch die zweistündige ‚Episode Ducrot’ blos unterbrochen worden war. Wimpffen erwies sich nur um eben so viel zuversichtlicher, als er unvertrauter mit der thatsächlichen Lage und mit der doppelt überlegenen Kraft des ihm gegenüberstehenden Feindes war. Mac-Mahon hatte bei Bazeilles nur siegen wollen, um seiner Armee an dieser Stelle den Durchbruch zu ermöglichen; Wimpffen gab sich, wenigstens auf kurze Zeit, dem Wahne hin, auf der Linie Bazeilles-Givonne überhaupt einen Sieg erringen zu können. Er wollte den Sieg nicht um des Rückzugs, er wollte den Sieg um des Sieges willen.“
Hier sei ein bei Theodor Fontane angehängter Abschnitt, in dem dieser seinen Unwillen über die widersprüchlichen Aussagen der sich gegenüberstehenden Parteien und Personen sowie der Letztgenannten (insbesondere jener von Wimpffen) in sich allgemein und teilweise konkret auslässt, aus Platzgründen übergangen. Was KAISER NAPOLEON betrifft, der von der Unterredung Wimpffen-Ducrot erfährt und das Hin und Her der obersten Befehlsgebung – sicherlich mit Recht – für ein schweres Unglück, eine Zerbröckelung der Kraft und eine Lockerung der Disziplin hält, so scheint dieser nach der Meinung Fontanes in diesen dramatischen Morgenstunden des Schlachtentages die Erkenntnis gewonnen zu haben, dass das von Ducrot Gewollte das allein Richtige sei. Wohl lässt er, Wimpffens Kehrtwende – so wie er zuvor diejenige von Ducrot hingenommen hat – zunächst, ohne ihm die mutmaßlich vorhandenen Bedenken entgegenzuhalten, geschehen. Doch findet er im Laufe eines am Vormittag unternommenen dreistündigen Rittes über das Schlachtfeld zweimal Gelegenheit, dem neuen Oberfeldherren von Wimpffen diese Anschauung zu erkennen zu geben; freilich bleibt dies ohne Wirkung:
-Zunächst zwischen 9 und 10 Uhr: „Auf dem Terrain westlich von Daigny traf er den General Wimpffen, der eben von Balan kam. ‚Wie steht die Schlacht?’ fragte der Kaiser. Der General antwortete: ‚Sire, die Dinge gehen so gut wie irgend möglich und wir gewinnen an Terrain.’ Auf die nun folgende Bemerkung des Kaisers, daß Meldung eingegangen sei, ein starkes feindliches Corps umgehe bereits die französische Linke, erwiderte Wimpffen, ohne in seiner Zuversicht erschüttert zu werden: ‚Gut! Desto besser; man muß sie gewähren lassen; wir werden sie in die Maas werfen und die Schlacht gewinnen’.“
–Dann ca. eine halbe Stunde später, worüber GENERAL PAJOL berichtet: „Wir waren eben, in Nähe des Bois de la Garenne (A. d. V.: Waldgebiet westlich von Givonne), eine Höhe hinangeritten, um einen Ueberblick zu gewinnen, als ein Chasseur-Offizier von der Division des Generals Goze aus den Reihen trat und zum Kaiser sagte: ‚Sire, ich bin hier zu Hause und kenne die Gegend vollkommen; wenn der Wald von Garenne umgangen ist, ist die Armee eingeschlossen und wir befinden uns in der bedenklichsten Lage.’ Diese Worte, fährt General Pajol fort, verfehlten nicht den Eindruck auf uns Alle. Der Kaiser ließ dem General Wimpffen sofort Mittheilung davon machen. Aber dieser voll derselben Zuversicht, die er eine halbe Stunde vorher im Gespräch mit dem Kaiser gezeigt hatte, antwortete dem Ordonnanz-Offizier: ‚Sagen Sie dem Kaiser, er möge beruhigt sein; in zwei Stunden habe ich sie in die Maas geworfen.’ General Castelnau, so schließt Pajol seine Mittheilung, drückte mir, als der Ordonnanz-Offizier diese Antwort Wimpfffen’s überbrachte, die Hand und sagte: ‚Gott gebe, daß wir nicht hineingeworfen werden.’“
Wimpffens Antworten, man werde den Feind in die Maas werfen und die Schlacht gewinnen, huldigen weniger einem echten, sondern eher einem Zweck-Optimismus, es sei denn, diese sind aus Ermangelung von Argumenten als bloße leere Floskeln anzusehen. Sicher erscheint, dass in ihm im Laufe des späten Vormittags mehr und mehr die Erkenntnis wächst, dass die Armee in der Tat eingeschlossen und verloren sei. Sein Ahnen findet Nahrung, als er gegen 11 Uhr in Vernachlässigung seiner Fixierung auf den Durchbruch bei Bazeilles am Ende des rechten Flügels nun doch den linken Flügel und damit GENERAL DOUAY, den Kommandeur des 7. Korps, aufsucht und von diesem Folgendes hören muss: „Wir schlagen uns nur noch für die Ehre unserer Waffen. Folgen Sie mir, General; es wird leicht sein, Sie davon zu überzeugen.“ Zum Höhenrand zwischen Floing und Illy geführt, wird er der jenseits versammelten Truppenmassen gewahr und erlebt die überlegene Feuerkraft und Präzision der zwischen St. Menges und Fleigneux feuernden Artillerie des Feindes. „Avec un coeur navré“ (mit blutendem Herzen) kehrt er nach dem Vieux camp in Sedan, dem Zentralpunkt der französischen Stellung, zurück.
Inzwischen hat am späten Vormittag des 1. September auch der KAISER NAPOLEON nach seinem dreistündigen Aufenthalt auf dem Schlachtfeld sein Pferd gewendet, um nach Sedan zurückzukehren. Unterwegs gewahrt er bereits Unordnungen in Gestalt einzelner Militärabteilungen, die dreifachem Artilleriefeuer von Nordwest, Ost und Süd ausgesetzt gewesen sind und jetzt fluchtartig in die Festungsstadt drängen. Und als er gegen 11 Uhr in der Stadt den Turenne-Platz erreicht, wächst der Beschuss dort von Minute zu Minute und es beginnt Verwirrung. „Der Kaiser hielt ruhig zu Pferde, ruhig, fast apathisch. Er war körperlich und geistig erschöpft. In seiner Seele mochte er lesen: Der Kaiserreichs letzter Tag !“ Gegen 12 Uhr ist der Einschließungsring um die Stadt und den diese von Nordwest bis Südost umgebenden Verteidigungsgürtel geschlossen. Nahezu 500 Geschütze feuern jetzt fast unablässig auf die Truppenverbände in den Stellungen um und auch in die Festungsstadt selbst, die durch ihre niedriges Höhenniveau von den Hügelketten ringsherum sich offen und schutzlos darbietet. Es können sich jetzt bestenfalls nur noch kleinere Abteilungen bei Illy, Givonne oder Bazailles durchwinden oder durchschlagen. Dieses glückt nordwärtig in der Tat einer Gruppe von gegen 5.000 Mann, die sich größtenteils nach Belgien retten. Der zweite Teil der Schlacht hat begonnen.
Gegen 1 Uhr beginnen die von GENERAL DUCROT angeordneten und geleiteten vier großen Kavallerie-Angriffe, die nicht mehr auf den Ausbruch gerichtet sind, sondern allein darauf, seine unmittelbar nördlich von Floing auf Illy zu stehenden hart bedrängten Bataillone zu unterstützen und Zeit für die Heranziehung frischer Brigaden zu gewinnen. „Da auf einmal bebte der Boden unter den Hufen der heranbrausenden feindlichen Cavallerie.“ In vier Wellen bei Intervallen von je einer Viertelstunde bis 20 Minuten reiten gegen die preußischen Einheiten, die den Hügel nordwestlich des Holzes de la Garenne zu erstürmen sowie die Vorstadt Cazal zu erreichen suchen, in todesmutiger Verzweiflung Attacke: Zuerst zwei Eskadronen Lanciers, dann mehrere Schwadronen Kürassiere (Chasseurs d’Afrique) auf Berber-Schimmelhengsten, danach zwei Eskadronen Chasseurs à cheval, schließlich mehrere Eskadronen Husaren und wieder Chasseurs á cheval. Sie branden gegen die heftig feuernden Schützenlinien der preußischen Infanterie- und Jägerverbände, bei denen nach dem Zeugnis von Fontane auch der 13. Kavallerie-Brigade zugehörige hessische Husaren Stellung bezogen haben. Deren Linien werden zwar mehrfach durchbrochen und es kommt stellenweise bei den Verteidigern zu harten Verlusten, doch brechen die Angriffe unter den Schnellfeuersalven meist zusammen; zu Hunderten fallen Ross und Mann. Und die durchgebrochenen Kolonnen werden vor Ort zusammengehauen oder kommen auf der Flucht großteils zu Tode. Für den KÖNIG WILHELM VON PREUSSEN und dessen Begleiter, die zur Beobachtung die Höhe von Frénois aufgesucht haben und denen sich nach Auflösung der morgendlichen dichten Nebeldecke der Blick bei strahlendem Sonnenschein in die hügel- und plateauumsäumte Maasschlingen-Landschaft eröffnet, wirken diese Kavallerieattacken bei aller Furchtbarkeit des Geschehens „wie ein großartig in Scene gehendes Schauspiel“. Die nachfolgende farbige Darstellung aus unbekannter Hand versucht, den Ansturm der Chasseurs d’Afrique auf ihren Schimmelhengsten (mittig rechts, wo das Rot der Reiterhosen heraussticht) und die Abwehr durch preußische Jäger (vorne und links) nachzuempfinden:
- Abb. A 25: Hessen verhindern in der Schlacht bei Sedan am 1. September 1870 den Durchbruch der „Afrikanischen Jäger“ bei Floing.
Das Vorandringen der deutschen Belagerer geht also weiter. Um 1 1/4 Uhr, also um die Zeit der ersten Reiterwelle, schickt Wimpffen, heimgesucht von Verzweiflung und Wut und ungeachtet oder gerade wegen der sich abzeichnenden Niederlage und Sorge um das Schicksal des Kaisers, an diesen nach Sedan hinein ein Billet, das folgendermaßen lautet: „‚Sire, ich gebe dem General Lebrun den Befehl, einen Durchbruch in Richtung Carignan zu versuchen, und ich lasse ihm alle verfügbaren Truppen folgen. Ich befehle dem General Ducrot, diese Bewegung zu unterstützen und dem General Douay den Rückzug zu decken. Möge Euer Majestät in die Mitte Ihrer Truppen kommen; sie werden es sich zur Ehre anrechnen, Ihnen einen Durchweg zu öffnen. 1 ¾ Uhr v. Wimpffen.’ – Es war 1 ¾ Uhr, als das Billet zu den Händen des Kaisers kam. Das Bild, das sich dem letzteren in seiner unmittelbaren Umgebung bot, war nicht geeignet, ihn mit Vertrauen zu einem Schritte zu erfüllen, wie ihn General Wimpffen vorschlug. Die Zustände innerhalb Sedan waren bereits seit 12 Uhr aller und jeder Ordnung entkleidet.“ Die letztgenannte Feststellung illustriert eine von dem Amerikaner Linus Pierpont Brockett nach Berichten von Augenzeugen gegebene Schilderung, von der hier ungekürzt ein auf den frühen Nachmittag bezogener Ausschnitt dargeboten werden soll:
„Für Jemanden, der wie ich in die Stadt kam, gab es nicht länger eine Schlacht zu beschreiben. Es war anfangs ein Rückzug, und nur zu bald eine wilde Flucht. Ich hielt mich selbst für glücklich, von dem Schlachtfeld fortzukommen, wie es mir gelang; denn eine Stunde später war die Niederlage jener Truppen, welche in meiner Nähe gestanden hatten, vollständig. Bereits stießen Soldaten in dem Kampfe, um in die Stadt hinein zu dringen, heftig gegeneinander an. Abgestiegene Reiter versuchten sogar über die Wälle zu klettern, nachdem sie von der Contrescarpe herunter gesprungen waren; Andere bahnten sich einen Weg durch die Hinterpförtchen. Aus einer Ecke in den Wällen, worin ich einen Augenblick ausruhte, sah ich auch Kürassiere – Mann und Pferd – in den Festungsgraben springen, wobei viele Pferde Beine und Rippen brachen. Soldaten drängten und kletterten rappelnd übereinander. Es waren Offiziere jeden Ranges – Obristen und selbst Generale in Uniformen, welche man unmöglich mißkennen konnte – in diesem schimpflichen Gewühl vermengt. Hinter Allem kamen Geschütze mit ihren schweren Lafetten und starken Pferden dahergerasselt, welche sich in das Gewühl hinein Bahn brachen und die Flüchtlinge zu Fuß verstümmelten und zerquetschten.- Um die Entsetzen zu vermehren, waren die deutschen Batterien inzwischen bis auf Schußweite vorgerückt, und die deutschen Bomben begannen, unter die um die Stadteingänge sich drängenden und ringenden Menschenmassen einzuschlagen. Auf den Wällen bemannten die Nationalgarden die Kanonen der Stadt und antworteten mit mehr oder weniger Wirkung den nächsten deutschen Batterien. Es war ein Schauspiel entsetzlich genug, um selbst die Phantasie eines Gustave Doré zu befriedigen. Ich konnte mir nur eine Vorstellung von der Lage unserer unglücklichen Armee machen – daß sie unten in einem siedenden Kessel stecke. – Ich eilte, so gut ich konnte, in mein Hotel zurück, indem ich den engsten Straßen folgte, wo die Bomben am unwahrscheinlichsten den Boden erreichen würden. Wo immer ein öffentlicher Platz war, stieß ich auf todte Pferde und Menschen, oder die noch zuckten, von platzenden Bomben in Stücke gerissen. Als ich mein Hotel erreichte, fand ich die Straße, worin es stand, wie die übrigen Straßen, mit Wagen, Kanonen, Pferden und Soldaten vollgepropft. Zum größten Glück bestrich in diesem Augenblick das deutsche Feuer nicht diese Straße; denn ein Zug von Munitionswagen, die mit Pulver gefüllt waren, versperrte den ganzen Weg, da er selbst nicht im Stande war, rückwärts oder vorwärts zu kommen. Es war die größte Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß diese Pulverwagen in die Luft fliegen würden, weil die Stadt bereits an zwei Orten in Flammen stand; und ich begann, Sedan für einen unbehaglicheren Platz zu halten als selbst das Schlachtfeld, über welches ein siegreicher Feind rasch vorrückte.“
Der Kaiser empfindet nicht anders und lehnt in seinem Inneren Wimpffens Vorschlag ab, an der Spitze seiner Truppen einen Ausfall Richtung Carignan zu wagen, schiebt aber sein „Nein“ zu diesem Verlangen hinaus. So wartet Wimpffen vergeblich und beginnt 2 ¼ Uhr, auf eigene Faust zu handeln; denn er empfindet:: „Es war höchste Zeit; es mußte etwas geschehen. Der Durchbruchsversuch, wenn er nicht all und jede Chance verlieren sollte, durfte nicht länger hinausgeschoben werden. Die Gegenwart des Kaisers würde Wunder gewirkt, meine Autorität gestärkt, die Widerwilligen mit fortgerissen haben; da sie nicht zu erzwingen war, so mußte es ohne ihn versucht werden.“ Und so begibt er sich zum Vieux Camp und findet dort in noch guter Haltung die Marine-Division, einige Zuaven-Bataillone und das 47. Linien-Regiment vor. Er gibt Ordre zum Avancieren und sofort setzen sich diese „braven Truppen“ in Stärke von 5 bis 6.000 Mann in Bewegung. Mit diesen zieht er durch das Haupttor von Balan in südöstlicher Richtung über den Fond de Givonne hinaus und nimmt gegen 2 ¾ oder 3 Uhr dort Stand, von wo aus er glaubt, die benachbarten Orte La Moncelle, Balan und Bazeille beherrschen zu können. Nicht wissend, dass die Reste des 12. und 5. Korps ca. 1.000 Schritt weiter östlich in Richtung Ost fechten, wundert er sich, weder auf dem passierten Terrain noch auf der Höhenposition französischen Truppenteilen zu begegnen. Da er diese jetzt in Balan vermutet, begibt er sich dorthin, um diese heranzuholen. Doch findet er dort das auf Sedan zuführende Tor geöffnet und den Ort leer und so weiß er, dass sich alle Truppen in die Festungsstadt Sedan zurückgezogen haben. Unter diesen ist auch General Lebrun.
Immer noch rechnet Wimpffen in fieberhafter Ungeduld auf den Kaiser. Und so begibt er sich wieder auf die Festung zu und trifft am Tor um 4 Uhr auf einen Beamten des Hofes, der ihm endlich einen Brief des Kaisers überreicht, aber gleichzeitig mitteilt, dass auf den Wällen bereits die weiße Fahne aufgezogen und er dazu ausersehen sei, mit dem Feinde zu parlamentieren. Wimpffen ist wie vom Donner gerührt und erklärt, keine Kenntnis von diesem Brief zu nehmen und auch nicht zu verhandeln. Nachdem ihn der Hofbeamte beschworen hat, den Brief zu empfangen und zu lesen, nimmt er diesen, öffnet ihn aber nicht. Mit dem Brief in der Hand reitet er dem Turenne-Platz zu und fordert unter dem Ruf „Vive la France! En avant!“ und „Bazaine greift gerade die Preußen im Rücken an“ einzelne Trupps auf, ihm zu folgen und einen letzten Versuch des Ausbruchs zu wagen. Sie begegnen General Lebrun, der von einem Mann mit Parlamentärfahne begleitet ist. Wimpffens Ordonnanzoffizier entreißt diesem die Fahne und wirft sie zur Erde und beeindruckt, wenngleich ohne wahre Hoffnung, schließt sich GENERAL LEBRUN dem Zug an. Offiziere und Soldaten weisen größtenteils auf die weiße Fahne, von der sie wissen wollen, dass sie auf Befehl des Kaisers aufgehisst worden ist. Andere aber folgen freudig und guten Mutes, so dass Wimpffen schließlich mit „tapfern 2.000“, wie er sagt, zum Balan-Tor hinauszieht. Die Einschätzung des oben bereits zitierten L. P. Brockett:
„Von Seelenpein zum Wahnsinn getrieben, und in schnurgeradem Widerspruch mit den Befehlen des Kaisers, hatte der beschlossen, alle Mannschaften zu sammeln, soviel er konnte, und Widerstand zu leisten. Er konnte nicht wissen, daß er durch einen eisernen Ring von 300,000 Mann umspannt war.“
In Balan sind die Häuser bereits voll von Deutschen, die aus jedem Fenster auf die Franzosen feuern. Die Tür der von diesen besetzten Kirche wird von zwei herbeigeholten Kanonen eingeschossen und dort werden 200 Deutsche gefangen. Wie diese letzte Unternehmung Wimpffens weiter- und rasch erfolglos zu Ende geht, hört sich aus der – Vorwurf vor allem gegen die „Umgebung des Kaisers“ (gemeint die in der Stadt außer Lebrun befindlichen Generäle) erhebenden – Feder Wimpffens selbst folgendermaßen an: „So drangen wir bis über die Kirche von Balan hinaus vor. 5 Uhr.- Der Feind stand uns an dieser Stelle, nach Osten und Südosten zu, nirgends in geschlossenen Massen gegenüber. Ich ritt bis an die Maas vor, und überzeugte mich, daß nichts da war, was im Stande gewesen wäre, einem mit vollem Ernst gewonnenen Angriff zu widerstehen; aber in der Umgebung des Kaisers hatte man seit drei Stunden bereits jeden Gedanken an Widerstand aufgegeben. Kein Zuzug, keine Hülfe kam. Als ich in Nähe der Kirche von Balan wieder eintraf, hatten sich die 2.000 Mann, die Lebrun und ich gemeinschaftlich bis hierher vorgeführt hatten, bereits sehr verringert. Einzelne todt oder verwundet, die meisten zerstreut. So gingen auch wir zurück. Lebrun und ich waren die Letzten. Es war jetzt gegen 6 Uhr.“
Was er sieht, das ist Chaos, das natürlich nicht weniger die Einwohnerschaft Verduns, darunter Frauen und Kinder, trifft. L. P. Brockett schildert das so:
Mit Einbruch der Nacht verlief sich der Menschenhaufe ein wenig, und mit einiger Mühe war es möglich, sich einen Weg durch die Stadt zu bahnen. Das Schauspiel, welches sich darbot, war entsetzlicher als der Krieg selbst. Todte lagen überall – Bürgerliche und Soldaten in einem gemeinsamen Blutbade. In einer Vorstadt zählte ich mehr als fünfzig Leichen von Landleuten und Städtern – einige Frauen darunter und ein Kind. Der Boden war mit Bruchstücken von Bomben übersäet. Hungernde Soldaten zerschnitten todte Pferde, um sie zu kochen und zu essen; denn Lebensmittel fehlten uns abermals, wie Alles seit dem Anfang dieses Feldzuges gefehlt hat. Ich war froh, von dem Anblick unsres Unglückes hinwegzukommen und die Erinnerung daran in einigen Stunden des Schlafes zu verlieren.“
Dieses ist auch die Stunde, die Sonne ist hinter schwarzem Gewölk untergetaucht und es fängt schon an zu dunkeln, da auf der Höhe von Frénois, dem Beobachtungs- und Kommandopunkt von KÖNIG WILHELM VON PREUßEN und seiner großen Suite, darunter KANZLER DES NORDDEUTSCHEN BUNDES OTTO VON BISMARCK, GENERALSTABSCHEF HELMUTH VON MOLTKE, KRIEGSMINISTER ALBERT VON ROON und GENERAL VON PODBIELSKI, gespannte Erwartung herrscht. Denn nachdem am Spätnachmittag gegen 5 Uhr auf der Zitadelle, den Wällen und am Tor nach Balan von Sedan die weiße Fahne, Zeichen der Kapitulation, erschienen ist, hat man OBERSTLEUTNANT BRONSART VON SCHELLENDORF in die Stadt gesandt, der mit der wie ein Lauffeuer sich verbreitenden Nachricht zurückgekommen ist, dass sich, deutscherseits hatte man davon keinerlei Ahnung gehabt, KAISER NAPOLEON in der Stadt befinde und alsbald ein Parlamentär kommen werde. Als solcher erscheint nunmehr per Pferd der französische GENERAL REILLE mit Begleitern und überreicht dem König den Degen seines Kaisers und ein Schreiben von Napoleon folgenden Inhalts:
„Mein Herr Bruder! Da mir nicht vergönnt war, in der Mitte meiner Truppen zu sterben, bleibt mir nur übrig, meinen Degen in die Hände Eurer Majestät zu legen. Ich bin Euer Majestät guter Bruder.- Sedan 1. September – Napoleon.“
(Der viel zitierte Kernsatz des französischen Texts lautet: „N’ayant pu mourir au milieu de mes troupes, il me ne reste qu’à remettre mon epée entre les mains de Votre Majesté.“)
Tief bewegt gibt der König den Brief an Bismarck, der ihn dem Kronprinzen, Moltke und Roon vorliest. Diesem Akt der völligen Unterwerfung und Preisgabe antwortet der Kanzler im Namen des Königs, indem er dem GRAFEN VON HATZFELD die folgende Nachricht diktiert: Mit Bedauern über die Umstände nehme der König den Degen an und bäte um einen Bevollmächtigten für seine tapfere Armee. Der König bestimme General Moltke dazu von seiner Armee.
Was Wimpffen, der sich in Sedan zu seinem Hotel Croix d’or begibt, hört und ihn umtreibt, das sind die folgenden zwei Wörter: Kapitulation und Verrat. Entgegen seiner, wie er denkt, besseren militärischen Einsicht missbilligt er immer noch das Aufziehen der weißen Fahne und die Absendung eines Parlamentärs, das über ihn hinweg in völliger Missachtung seiner Funktion des Oberkommandierenden geschehen ist, und ist darüber tief gekränkt. Und er spürt, dass ihm nun zum Spott und Hohn für seinen bis zuletzt gezeigten Widerstandsmut noch Schlimmers droht: nämlich die trostlose Aufgabe, in dieser Funktion die Kapitulationsverhandlungen führen und die Unterwerfung besiegeln zu müssen. Solcher Schande sucht er zunächst zu entgehen, indem er an den Kaiser um 7 ½ Uhr abends folgendes Entlassungsgesuch richtet:
„Sire! Ich werde niemals die Beweise von Wohlwollen vergessen, welche Sie mir gewährt haben, und ich würde sowohl im Hinblick auf Frankreich wie auf Sie glücklich gewesen sein, wenn ich den heutigen Tag mit einem glorreichen Erfolge hätte beenden können. Ich habe dieses Resultat nicht erlangen können und ich glaube, einem Anderen die Sorge, unsere Armee zu führen, überlassen zu müssen. Ich glaube zugleich in dieser Lage genöthigt zu sein, meine Entlassung als Obergeneral zu nehmen und meine Pensionirung zu verlangen. Ich bin General v. Wimpffen.“
Diesmal schon um 8 Uhr trifft des Kaisers Antwort ein:
„General! Sie können nicht Ihren Abschied nehmen, wenn es sich noch darum handelt, die Armee durch eine ehrenvolle Capitulation zu retten. Ich nehme Ihre Demission nicht an. Sie haben den ganzen Tag hindurch Ihre Schuldigkeit getan. Thun Sie es ferner. Es ist dies ein Dienst, den Sie dem Lande leisten werden. Der König von Preußen hat einen Waffenstillstand angenommen. Ich erwarte seine Vorschläge. Zweifeln Sie nicht an meiner Freundschaft. Napoleon.“
General von Wimpffen schwankt zunächst, doch dann siegt unter dem Zuspruch seiner Begleiter, wie Fontane es sieht, „seine Liebe zu Armee und Vaterland über seine Selbsliebe“. Er begibt sich um 8 ¼ Uhr zum Schloss, wo der Kaiser Wohnung genommen hat und wo man ihm in den Vorgemächern den Eintritt mit der falschen Ausflucht, der Kaiser habe eine Konferenz mit dem Prinzen, zu verweigern sucht. Laute Unmutsäußerungen lassen ihn nun denn doch ins kaiserliche Kabinett gelangen, wo sich GENERAL CASTELNAU und verschiedene andere Generaladjudanten mit dem Kaiser beraten. Nach den späteren Schilderungen Wimpffens in seiner Verteidigungsschrift „Sedan par le Général der Wimpffen“ (Paris 1871) verlassen bei seinem Erscheinen allesamt bis auf GENERAL DUCROT das Zimmer und es entspinnt sich zwischen beiden der folgende Wortwechsel:
– DUCROT in großer Errregung: „General, da Ihr Ehrgeiz Sie dazu stachelte, mich der Ehren des Kommandos zu entheben, so möge Ihnen auch die Schmach der Kapitulation zufallen.“
– WIMPFFEN verteidigt sich: „Ich nahm das Kommando, um eine Niederlage zu vermeiden, die Ihre angeordneten Bewegungen unfehlbar herbeigeführt hätten. Was ich zu erreichen gedachte, habe ich nicht erreicht; aber alle meine Anstrengungen gehören auch in diesem Augenblicke noch der Armee. Im Übrigen, General, bin ich nicht an dieser Stelle erschienen, um mit Ihnen zu verhandeln. Lassen Sie uns.“
Nach den Feststellungen von Ducrot in seiner Verteidigungsschrift „La journée de Sedan par le Général Ducrot“ (Paris 1871), in der er sich auf das Zeugnis der angeblich anwesend gebliebenen Generäle (unter Namhaftmachung von GENERALSTABSCHEF GENERAL FAURE) beruft, spielte sich der Wortwechsel folgendermaßen ab:
– WIMPFFEN, hastig ins Zimmer getreten und die Arme gen Himmel hebend: „Sire, wenn ich die Schlacht verloren habe, wenn ich besiegt worden bin, dann liegt es einzig und allein daran, dass meine Befehle nicht ausgeführt wurden, dass Ihre Generale mir nicht gehorchen wollten.“
– DUCROT, aufspringend und sich mit einem Sprung vor Wimpffen stellend: „Was sagen Sie, wer hat Ihnen nicht gehorchen wollen? Auf wen spielen Sie an? Etwa auf mich? Ihre Befehle sind leider nur zu gut ausgeführt worden. Ihrer tollen Anmaßlichkeit haben wir unsere furchtbare Niederlage zuzuschreiben. Sie allein haben sie zu verantworten, denn wenn Sie die Rückzugsbewegung nicht aufgehalten hätten, trotz meiner Gegenvorstellungen, so wären wir jetzt mit Sicherheit in Mezières.“
– WIMPFFEN, etwas überrascht und außer Fassung gebracht durch diese Abfertigung: „Wohlan, wenn ich unfähig bin, so ist dies ein neuer Grund, auf das Kommando zu verzichten.“
– DUCROT: „Sie haben sich heute Morgen des Kommandos bemächtigt, als Sie dachten, dass es Ehre und Nutzen bringen würde; ich habe es Ihnen nicht streitig gemacht, obgleich es vielleicht bestreitbar war. Zur Stunde können Sie sich nicht zurückziehen. Sie allein haben die Schande der Kapitulation auf sich geladen. …“
Fontane meint, dass Wimpffen wenigstens die letztgenannte Äußerung nicht gemacht haben könne, da er schon vorher entschlossen gewesen sei, im Kommando zu bleiben, um die Kapitulation und dadurch die Rettung der Armee zu ermöglichen.
Nach diesem Zwischenfall, wie dessen genauer Ablauf auch gewesen sein mag, verlässt General Ducrot das Zimmer und Wimpffen erklärt nunmehr dem Kaiser, die ihm zugefallene unglückliche Rolle auch zu Ende führen zu wollen. Der Kaiser zeigt sich bewegt. Es werden Pferde beordert und vorgeführt und Wimpffen erhält zu seiner Legitimation folgendes kaiserliche Handschreiben:
„Der Kaiser Napoleon III., nachdem in Folge der Verwundung des Marschalls Mac-Mahon der General v. Wimpffen zum Ober-Commandanten durch ihn ernannt worden war, hat dem General v. Wimpffen Vollmacht ertheilt, über die Bedingungen für seine Armee zu verhandeln, von der der König anerkannt hat, daß sie sich tapfer geschlagen habe.“
Die fehlerhafte Feststellung, dass Wimpffen den Oberbefehl vom Kaiser empfangen habe, in Wirklichkeit hatte sich dieser (gestützt auf das dienstliche Schreiben Palikaos) desselben bemächtigt, bleibt von diesem unbeanstandet. Begleitet von GENERAL CASTELNAU, der bei den vorbereitenden Unterhandlungen die Interessen des Kaisers wahrnehmen soll, und GENERAL FAURE mit den jeweiligen Adjudanten, begibt sich Wimpffen nach dem wenige Kilometer westlich von Sedan an der Maas gelegenen Ort Donchery. In dessen Jagdschloss wird er auf seinen deutschen Widerpartner und gleichzeitig (bei der Begegnung wohl unausgesprochen geblieben) sogar Verwandten (Vetter seiner vor knapp 40 Jahren verstorbenen Tante ELISE VON WIMPFFEN, geb. VON MOLTKE), GENERAL HELMUTH VON MOLTKE mit Gefolge treffen, den der König von Preußen zum Bevollmächtigten der Kapitulationsverhandlungen bestimmt hat.
e. Wie Emmanuel Félix de Wimpffen bei den nächtlichen Verhandlungen über die Kapitulation mit General Helmuth von Moltke in Donchery vergebens versucht, den freien Abzug der geschlagenen Armee von Sedan durchzusetzen.
Etwa um 10 Uhr nachts des 1. September treffen diese am Jagdschloss von Donchery ein. Nach dem von CAPITAINE D’ORCET vom IV. französischen Cürassier-Regiment in den Wintermonaten 1870/71 während seiner Gefangenschaft in Stettin abgefassten ganz besonders ausführlichen Darstellung, die später von General Ducrot zur Verfügung gestellt und von diesem veröffentlicht wurde und sich mit den anderen vorhandenen Aufzeichnungen, insbesondere auch jener – allerdings wesentlich kürzeren – Fassung Wimpffens, im Ganzen vorzüglich deckt, geht die denkwürdige „Conferenz von Donchery“ folgendermaßen vonstatten (die Großschreibung sowie Unterstreichung von Namen und Wendungen stellen teilweise im Urtext in Sperrdruck präsentierte Hervorhebungen dar, denen jedoch vom Verfasser noch andere solche beigegeben sind):
„ … Wir wurden in ein Zimmer im Erdgeschoss geführt, wo wir 10 Minuten zu warten hatten, bevor GENERAL V. MOLTKE, GRAF BISMARCK, GENERAL V. BLUMENTHAL und einige andere preußische Offiziere eintraten. Nach einer kurzen Begrüßung stellte GENERAL V. WIMPFFEN die ihn begleitenden beiden Generale (FAURE und CASTELNAU) dem General v. Moltke vor. Auf die Frage des Letzteren, in welcher Eigenschaft die beiden Herren zugegen wären, antwortete zunächst General Faure, daß er als Chef des Generalstabes der ehemalig Mac-Mahon’schen Armee den General v. Wimpfen, jedoch ohne jeden offiziellen Charakter, begleitet habe. General Castelnau bemerkte, daß er eine mündliche, halboffizielle Mittheilung seitens des Kaisers zu machen wünsche, daß diese Mittheilung erst am Schluß der Verhandlungen, an denen er sonst in keiner Weise betheiligt sei, von Nutzen sein werde. General v. Moltke nannte darauf, sie mit der Hand bezeichnend, dem General v. Wimpfen den Grafen Bismarck und den General Blumenthal, worauf man sich setzte.
Das Arrangement war das folgende: Inmitten des Zimmers stand ein viereckiger Tisch mir rother Decke; an der einen Seite saß General von Moltke, links den Grafen Bismarck, rechts den General v. Blumenthal neben sich; ihm gegenüber und neben diesem – etwas rückwärts und fast im Schatten schon – die Generale Castelnau und Faure, sammt den sie begleitenden Adjudanten. Von preußischen Offizieren waren noch sieben oder acht zugegen, deren einer, auf einen Wink des Generals v. Blumenthal, sich neben den Kamin stellte, um, auf die Krönung desselben gestützt, eine Art Protokoll zu führen.
Ein momentanes Schweigen trat ein. Man fühlte, daß General v. Wimpffen in Verlegenheit war, wie er das Gespräch einleiten solle; aber General Moltke blieb unbeweglich und war entschlossen, seinem Gegner das erste Wort zu überlassen.
Es würde ihm lieb sein, begann v. Wimpffen endlich, die Bedingungen kennenzulernen, die Se. Majestät der König von Preußen gewillt ist, uns zu bewilligen.
Sie sind einfach genug, erwiderte General v. Moltke. Die Armee ist kriegsgefangen mit Waffen und Gepäck; man wird den Offizieren, in Anerkennung ihrer tapferen Haltung, den Degen lassen; aber sie sind kriegsgefangen wie die Truppen.
Diese Bedingungen sind hart, entgegnete General v. Wimpffen; die Haltung der französischen Armee hätte vielleicht bessere verdient. Wäre nicht eine Capitulation auf folgende Abmachungen einzuleiten: Der Platz und seine Artillerie wird übergeben; die Armee behält ihre Waffen, Fahnen, Gepäck, unter der Zusage in diesem Kriege nicht ferner gegen Preußen zu dienen; der Kaiser und die Generale verpflichten sich für die Arme, die Offiziere für sich selbst; Preußen bestimmt einen Theil Frankreichs (wenn nicht Algier vorgezogen wird), wohin sich die Armee bis zum Friedensschlusse zurückzuziehen hat.
Wimpffen fügte noch einiges Weitere hinzu; als er inzwischen wahrnahm, daß sein Gegner unerbittlich blieb, versuchte er die Sympathien desselben durch einen Hinweis auf seine (Wimpffens) persönliche Lage zu erwecken. ‚Vor zwei Tagen treff’ ich von Afrika hier ein; ein untadeliger militärischer Ruf bekleidet mich; mitten in der Schlacht übernehm’ ich den Oberbefehl und nun soll ich meinen Namen an eine Capitulation setzen, die das Resultat eines Kampfes ist, der von mir weder geplant noch eingeleitet wurde. Sie, der Sie selbst General sind, werden das Bittere meiner Lage besser empfinden, als irgend wer.’
General v. Wimpffen versuchte näher auf diese Dinge einzugehen und ein Bild der besonderen Vorkommnisse und Verlegenheiten zu entrollen, die ihn in das Oberkommando einführten und während desselben begleiteten, alsbald indessen wahrnehmend, daß dieser Appell an die menschliche Theilnahme des Gegners wirkungslos blieb, nahm er einen lebhafteren Ton an und erklärte: ‚Im Uebrigen, General, wenn keine anderen Zugeständnisse gemacht werden können, so sehe ich mich außer Stande, Ihre Bedingungen anzunehmen. Ich werde an meine Armee das Glück der Schlachten noch einmal appelliren, und entweder mich durchzuschlagen oder in Sedan mich zu vertheidigen wissen.’
Hier unterbrach ihn General v. Moltke: ‚Ich bin voll großer und besonderer Hochachtung vor Ihrer Person, ich würdige die Schwierigkeiten Ihrer Lage und ich bedaure, Ihren Forderungen nicht nachkommen zu können; was aber einen erneuten Durchbruchsversuch oder Ihren Entschluß angeht, sich in Sedan zu vertheidigen, so muß ich Ihnen bemerken, daß das eine so unmöglich ist, wie das andere. Gewiß, Sie haben noch immer über Bruchtheile einer ausgezeichneten Armee Verfügung, Ihre Elite-Truppen sind ersten Ranges, aber ein großer Theil Ihrer Infanterie ist demoralisirt, denn wir haben heut, im Laufe des Tages, über 20,000 unverwundete Gefangene gemacht. Sie haben noch 80,000 Mann; wir stehen Ihnen mit 240,000 Mann und 500 Geschützen gegenüber; bestimmen Sie einen Ihrer Offiziere, der sich von der Genauigkeit meiner Angaben überzeugen mag. Sie können nicht durch und können sich eben so wenig in Sedan halten, denn Sie haben keine Munition mehr und nur Lebensmittel auf 48 Stunden.’
General v. Wimpffen, als er seinen Gegner so wohl unterrichtet sah, suchte ihm von anderer Seite beizukommen. ‚Ich möchte doch glauben, fuhr er fort, daß es auch vom politischen Standpunkte aus angesehen, sich empfehlen würde, der mir unterstellten Armee ehrenvolle Bedingungen zu gewähren. Sie wünschen den Frieden, und über kurz oder lang werden Sie ihn haben. Was die französische Nation vor Allem kennzeichnet, ist ihre hochherzige und ritterliche Gesinnung; eine solche Gesinnung aber ist allemal erkenntlich für die Akte des Edelmuths, denen sie begegnet. Verfahren Sie umgekehrt, schreiten Sie zu den härtesten Maßregeln, so wecken Sie Zorn und Haß in den Herzen aller unserer Soldaten und verletzen die Eigenliebe der Nation aufs Empfindlichste. All die alten Leidenschaften und Gegensätze werden wieder wachgerufen und Sie gerathen in Gefahr, einen nicht enden wollenden Krieg zwischen Preußen und Frankreich entbrennen zu sehen.’
Hier fiel Graf Bismarck ein: ‚Ihre Argumentation, Herr General, scheint beim ersten Anblick ernstlich zu sein; aber sie scheint es nur und ist im Grunde unhaltbar. Man muß im Allgemeinen sehr wenig an die Dankbarkeit glauben, und am Allerwenigsten an die Dankbarkeit eines Volkes. Man kann zur Noth an die wohlwollenden Gesinnungen eines Souverains und seiner Familie glauben, ja man kann ihnen unter Umständen ein vollkommenes Vertrauen schenken; aber, ich wiederhole es, von der Dankbarkeit einer Nation ist nichts zu erwarten. Wenn das französische Volk wie ein anderes wäre, wenn es dauerhafte Einrichtungen hätte, wenn es, wie das unsrige, Verehrung und Achtung vor seiner Regierungsform und einem Souverain hätte, welcher fest auf seinem Throne sitzt, so könnten wir an die Dankbarkeit des Kaisers und seines Sohnes glauben und auf diese Dankbarkeit Werth legen; aber in Frankreich sind seit 80 Jahren die Regierungsformen so wenig dauerhaft gewesen, sie haben mit einer so seltsamen Raschheit gewechselt, daß es von Seiten einer benachbarten Nation Unverstand sein würde, Hoffnungen auf die Freundschaft eines französischen Souverains zu bauen. Ueberhaupt aber würde es Thorheit sein, sich einzubilden, daß Frankreich uns unsere Erfolge verzeihen könnte. Sie sind ein über die Maßen eifersüchtiges, reizbares und hochmüthiges Volk. Seit zwei Jahrhunderten hat Frankreich dreißig Mal Deutschland den Krieg erklärt, und diesmal, wie immer, aus Eifersucht, weil man uns unseren Sieg von Sadowa nicht verzeihen konnte, obgleich dieser Sieg Frankreich und seinem Ruhm keinen Eintrag gethan hatte. Aber es scheint, daß der Sieg eine dem französischen Volk allein vorbehaltene Apanage, daß er ein Monopol für dasselbe ist. Man konnte uns Sadowa nicht verzeihen, und man würde uns Sedan verzeihen? Nimmermehr! Wenn wir jetzt den Frieden schlössen, in fünf Jahren, in zehn Jahren, sobald Frankreich es vermöchte, würde es den Krieg wieder anfangen. Das ist die Dankbarkeit, die wir von der französischen Nation zu erwarten haben. Wir sind im Gegensatz dazu eine friedliebende Nation, welche in Ruhe zu leben wünscht und leben würde, wenn man uns nicht fortwährend reizte. Heute ist es genug. Frankreich muß für seinen eroberungslustigen Charakter gezüchtigt werden; wir wollen ausruhen, wir wollen die Sicherheit unserer Kinder wahren, und dazu ist es nöthig, daß wir zwischen Frankreich und uns ein Glacis, ein Territorium, Festungen und Grenzen haben, die uns für immer gegen einen Angriff schützen.’“
Hier sei die Wiedergabe des Berichts von d’Orcet unterbrochen, um darauf hinzuweisen, dass Graf Bismarck jetzt von der Forderung der Abtretung des Elsass und von Lothringen sowie gleichzeitig auch einer Kriegsentschädigung in Geld spricht. Dieses ist in Wimpffens Protokolltext, wo zunächst von einem „Glacis“ im Sinne einer Schutzzone an der Grenze gesprochen ist, folgendermaßen dargestellt:
„Le comte de Bismarck, venant ensuite à parler de la paix, me dit que la Prusse avait l’intention, bien arrêtée, d’exiger non seulement une indemnité de guerre de quatre milliards, mais encore la cession de l’Alsace et de la Lorraine allemande, ‚seule garantie, pour nous menace sans cesse, et il faut que nous ayons, comme protection solide, une bonne ligne stratégique avancée.’ Je répondis q’on obtiendrait sans doute les milliards, mais q’on ne cédérait point une portion de territoire sans une lutte acharnée et que si la France devait y succomber se voir forcée, pour obtenir la paix, d’abendonner l’Alsace et la Lorraine, cette paix ne serait qu’une trêve durant laquelle de l’enfant au vieillard on apprendrait le maniement des armes pour recommencer avant peu une guerre terrible dans laquelle l’un des deux peuples disparaîtrait comme nation de la carte de L’Europe.“
Übersetzt: „Graf Bismarck, alsdann auf den Frieden zu sprechen kommend, erklärte mir sehr zurückhaltend, dass Preußen die Absicht habe, nicht allein eine Kriegsentschädigung in Höhe von 4 Milliarden zu fordern, sondern noch die Abtretung des Elsass und Deutsch-Lothringens, ‚einzige Garantie für uns’, fügte er bei‚ ‚denn Frankreich bedroht uns unaufhörlich, und es wäre notwendig, dass wir zum festen Schutz eine tüchtige vorgeschobene strategische Linie hätten.’ Ich erwiderte, dass man ohne Zweifel die Milliarden durchsetzen könne, aber nie wird man ein Stück eines Gebietes ohne verbissenes Ringen abtreten; und wenn Frankreich unterliegen und sich, um den Frieden zu erlangen, Elsass und Lothringen abzutreten gezwungen sehen müsste, würde dieser Friede nichts anderes als eine andauernder zäher Waffenstillstand sein, welcher vom Kind bis zum Greis den Umgang mit Waffen lehren würde, um binnen kurz oder lang wieder einen fürchterlichen Krieg zu beginnen, der eines der beiden Völker als Nation von der Karte verschwinden ließe.“-
Fontane hat diese Partie vereinfachend und verkürzend folgendermaßen dargebracht:
„Graf Bismarck schloß dann, auf das politische Gebiet übergehend, damit, daß, außer einer Geldentschädigung von vier Milliarden, nur in Abtretung von Elsaß und Lothringen eine wirkliche Friedensgarantie gegen das uns beständig bedrohende Frankreich zu finden sei.“
Man muss sich wundern, dass dieser für Frankreich besonders folgenschwere (natürlich erst im Vorfrieden zu Versailles vom 26. Februar 1871 formell bestätigte) Passus bei d’Orcet fehlt, zumal Wimpffens Bericht sonst eindeutig kürzer gehalten ist. Dass Wimpffens Ahnung der Folgen harter Kapitulationsbedingungen und gerade einer Abtretung des Elsass’ und Lothringens richtig waren, das zeigt uns die dadurch entstandene schwere in permanente Revanchegedanken gemündete Verletzung der französischen Seele. Freilich kamen für Wimpffen diese Geld- und Gebietsforderungen Bismarcks nicht unverhofft; denn diese waren von diesem bereits bald nach dem Beginn des Krieges öffentlich angesprochen und seitdem immer wieder in den Zeitungen Deutschlands wie Frankreichs mit Leidenschaft konträr behandelt worden. Nunmehr sei der Bericht von d’Orcet forgesetzt:
„General v. Wimpffen suchte hierauf geltend zu machen, daß Graf Bismarck ein früheres Frankreich, etwa das Frankreich von 1815, geschildert habe. Alle diese Dinge hätten seitdem eine große Wandlung erfahren; Jeder strebe nach Wohlleben, nicht nach Ruhm und Krieg, und der Wunsch der Nation ginge in der That dahin, eine Verbrüderung der Völker zu proclamiren. Ein Blick auf England beweise am besten, wie sehr das gegenwärtige Frankreich von dem vergangenen verschieden sei. Die Engländer seien jetzt die besten Freunde der Franzosen. So würde sich auch das Verhältniß zwischen Frankreich und Deutschland gestalten, wenn Deutschland verstände, edelmüthig zu sein.
An dieser Stelle griff Graf Bismarck, nachdem er schon vorher durch Mienen und Bewegungen seine Zweifel an den Auslassungen General v. Wimpffens ausgedrückt hatte, abermals das Wort. ‚Ich kann das nicht zugeben, General, daß sich diese Dinge bei Ihnen zum Besseren geändert hätten. Es war auch diesmal wieder Frankreich, welches den Krieg wollte; lediglich um der Ruhmesmanie der Nation zu schmeicheln und dadurch mittelbar die erschütterte Dynastie zu befestigen, lediglich aus diesem Grunde wurden wir durch den Kaiser provocirt. Wir wissen sehr wohl, daß ein vernünftiger, in seinem Kerne gesunder Bruchtheil Ihres Volkes diesen Krieg nicht wollte; aber auch diese ruhigeren Elemente gaben schließlich ohne sonderliches Widerstreben nach. Wir wissen auch, daß es nicht die Armee war, die vor allem zum Krieg drängte, es war vielmehr die Partei, die in Ihrem Land die Regierungen macht und stürzt. Das Straßenvolk und die Journalisten (und dies letztere Wort betonte er), die sind es, denen wir eine Lektion ertheilen müssen. Und dessentwegen müssen wir nach Paris. Wer will denn vorausbestimmen, wie sich die Dinge bei Ihnen entwickeln werden? Vielleicht bildet sich eine jener Regierungen, die ihre Aufgabe darin setzen, nichts zu respektiren; vielleicht wächst über Nacht ein Gouvernement auf, das willkürlich Gesetze macht und streicht, das die zwischen uns festgestellte Capitulation nicht anerkennt und die Offiziere zwingt, oder doch zu zwingen trachtet, ihr uns gegebenes Wort zu brechen. Dies ist von Wichtigkeit. Ein solches Gouvernement wird zum Aeußersten schreiten, auch in seinem Widerstande gegen uns. Man wird neue Armeen herzustellen beflissen sein und junge Soldaten aufzubringen, das wird gelingen; aber was nicht gelingen wird, das ist, so lange die alte Armee kriegsgefangen bleibt, die Herstellung eines Offiziercorps. Wir wollen einen Frieden, einen dauerhaften Frieden; um ihn zu erlangen, ist es nöthig Frankreich in die Unmöglichkeit ferneren Widerstandes zu versetzen. Das Glück der Schlachten hat uns die besten Soldaten, die besten Offiziere der französischen Armee überliefert; sie in Freiheit zu setzen, um sie aufs Neue gegen uns marschiren zu sehen, wäre Wahnsinn. Es würde den Krieg verlängern und dem Interesse beider Völker widersprechen. Nein, General, alle Theilnahme, die uns Ihre persönliche Lage einflößt, alle gute Meinung, die wir Ihrer Armee hegen, – beides darf uns nicht bestimmen von den Bedingungen zurückzutreten, die wir gestellt haben.’
‚Wohlan denn’, erwiderte General v. Wimpffen, ‚da es mir in gleicher Weise unmöglich ist, diese Bedingungen zu acceptiren, so möge der Kampf aufs Neue beginnen.’
An dieser Stelle nahm General v. Castelnau das Wort. Er bemerkte mit zögernder Stimme: ‚Ich halte den Augenblick für gekommen, mich meines Auftrags zu entledigen. Der Kaiser hat mich beauftragt, Sr. Majestät dem König Wilhelm zu bemerken, daß er ihm seinen Degen ohne Bedingung geschickt und sich durchaus persönlich Ihm ergeben habe, aber nur in der Hoffnung, daß dies den König bewegen werde, der französischen Armee eine ehrenhafte Capitulation zu bewilligen.’
‚Ist das alles?’ fragte Herr v. Bismarck. ‚Ja.’ Aber welcher Degen ist es, den der Kaiser überreicht hat? Ist es der Degen Frankreichs oder sein Degen? Im ersteren Falle könnten die Bedingungen bedeutend verringert werden und Ihre Sendung würde von der größten Wichtigkeit sein.’ ‚Es ist einfach der Degen des Kaisers.’ ‚In diesem Falle’, bemerkte rasch und fast mit Freudigkeit General v. Moltke, ‚ändert es nichts an den Bedingungen.’ Und er fügte hinzu: ‚Der Kaiser wird für seine Person alles erhalten, was ihm belieben wird zu verlangen.’*
* Die am Seitenende in Kleinstschrift angefügte Fußnote lautet folgendermaßen: „Capitän d’Orcet macht hier eine Anmerkung, in der es heißt: ‚Es schien mir eine gewisse Meinungsverschiedenheit (une secrète divergence d’opinion) zwischen Graf Bismarck und General v. Moltke obzuwalten, die dahin ging, daß jenem eine Beendigung des Krieges nicht ungelegen gewesen wäre, während dieser (Moltke) die Fortsetzung des Kampfes wünschte.“
Auf diese Worte General v. Moltke’s wiederholte v. Wimpffen nur: ‚So werden wir denn die Schlacht wieder aufnehmen. Um 4 Uhr früh läuft der Waffenstillstand ab.’
(Moltke): ‚Ich werde um diese Stunde das Feuer auf die Stadt wieder eröffnen lassen.’
Die Unterhandlungen waren am Ende; Alles schien gescheitert; die Pferde wurden befohlen. Niemand sprach; es war ein eisiges Schweigen.“
Hier sei der Bericht des Rittmeisters d’Orcet abermals unterbrochen, um auf die nachstehend eingefügten drei Abbildungen hinzuweisen, welche die damals von der ganzen damaligen Welt beachteten nächtlichen Kapitulationsverhandlungen nachempfindend festhalten:
- Abb. A 26: „Die Capitulation von Sedan“. Graf Moltke und General Wimpffen im Jagdschloss Donchery in der Nacht vom 1. zum 2. September 1870. Gedenkblatt zur fünfundzwanzigsten Wiederkehr des Tages von Sedan. 1870 – September – 1895 (nach dem gleichnamigen verschollenen Gemälde von Anton von Werner, Öl auf Leinwand, 3,20 x 4,20 m; 1885, Diorama im Sedan-Panorama); Eduard Thiele, Kunstverlag, Dresden; Blattgröße 28 x 30 cm, Bildgröße 17 x 22 cm.
- Abb. A 27: Die Kapitulations-Verhandlungen von Sedan. Schwarz-Weiß-Druck; in: Arthur Mennell und Bruno Garlepp, Bismarck-Denkmal für das Deutsche Volk, Neudruck ohne Jahreszahl (Erstdruck 1895 zu Otto von Bismarcks 80. Geburtstag) Chicago. Berlin. London. Paris. Melbourne, 20 cm x 28,5 cm (nach der von Anton von Werner ca. 1890 erstellten Neufassung des vorgenannten Gemäldes des Jahres 1885).
- Abb. A 28: Die Kapitulationsverhandlungen von Sedan, Gemälde von Clara von Wimpffen, geb. Both von Botfalva und Bajna, geb. 1907 in Iklad-Domony/Ungarn – gest. 2000 in Bakonság/Ungarn.
Anton von Werner (geb. 1843 in Frankfurt/Oder – gest. 1915 in Berlin), dessen zwei vorstehend aufgeführte Kolossal-Historiengemälde den abgebildeten beiden ersten Druckdarstellungen jeweils als Vorlage gedient haben, war der im Deutschen Kaiserreich bestgefragte Historienmaler, der es verstand, in meisterhafter Weise in einer höchst realistischen Manier die großen historischen nationalen Ereignisse und Begleitgeschehnisse sowie zeitgenössische große Persönlichkleiten der Politik und Gesellschaft darzustellen und diese den Menschen prägend in wilhelminisch-nationalem Geist zu vermitteln. Deshalb galt er auch als ein sog. Kunstpolitiker und fanden gerade die vorgenannten beiden Gemälde über die gesamte Zeit des Deutschen Kaiserreiches mittels Nachdrucks in Form von in den bürgerlichen Wohnungen aufgehängten gerahmten sowie in nationale Buchwerke aufgenommenen Schwarz-Weiß-Kunstdrucken gewaltige Verbreitung. Man beachte auf den beiden Druckdarstellungen die unten platzierten Namen und Ränge der sämtlichen den Beschauern vermittelten Handlungsträger. Die erstgenannte ältere der beiden Darstellungen zeigt im Scheine einer Petroleumlampe und zweier Kerzen den französischen obersten General und Verhandlungsführer EMMANUEL FÈLIX DE WIMPFFEN zusammengesunken in der Pose der Niedergeschlagen-, Unterlegen- und Verzweifeltheit auf seinem Stuhl am Verhandlungstisch sitzend, während die beiden preußisch-deutschen Kontrahenten, GENERAL HELMUTH VON MOLTKE und GRAF OTTO VON BISMARCK, hochaufgerichtet, stolzblickend stehend wie auch die Schar deren Begleiter auf den Unglücklichen niederblicken. Und von den die öde Langwand des Raumes belebend füllenden beiden kleinen Portraitbildern her müssen quasi Kaiser Napoleon III. und Kaiserin Eugénie der hier sich vollziehenden Erniedrigung der „Grande Nation“ zusehen. Als dieses im Mai 1885 und damit bald nach dem 70. Geburtstag von Reichskanzler Bismarck vollendete erste der Gemälde bald darauf im Rahmen des dreiteiligen mächtigen Dioramas „la nuit“ (gemeint: Die Nacht der Kapitulation) im Mittelgeschoss des Berliner Panoramagebäudes der Weltöffentlichkeit triumphierend präsentiert wurde, gab es nicht allein hohes Lob, sondern auch z. T. harsche Kritik, natürlich ganz besonders von Seiten Frankreichs. So schrieb das Pariser Blatt „Le soleil“ ausgangs Oktober 1885 u. a. erbost:
„ … C’est écœrant. Celui que le peintre a le plus mal traité, c’est le général de Wimpfen. On dirait d’un homme, qui a perdu tout courage et toute dignité, d’un bandit, que l’on va prende.“
[„Es ist herzlos. Derjenige, welchen der Maler am schlimmsten dargestellt hat, das ist General de Wimpffen. Man möchte sagen wie ein Mensch, der jeden Mut und jede Würde verloren hat, wie ein Bandit, den man fassen (hängen) will.“]
Selbst der Kaiser hat den Maler schließlich ermuntert, das Bild „abzumildern“. So kam es zu der dem zweitgezeigten Druck zugrundliegenden Neufassung: Diese hält jenen Augenblick fest, da die von de Wimpffen angestrebte Gewährung des Abzugs der Truppen in Waffen in einen noch zu bestimmenden Bereich mit der Versicherung, sich an keinen Kämpfen mehr zu beteiligen, abgelehnt worden ist und so die Verhandlungen zu scheitern drohen und dieser sich somit erhebt und zum Gehen anschickt. Zu beachten ist, dass hier jetzt die französische Seite weniger gedemütigt dargestellt ist und Graf Otto von Bismarck am Tische Platz genommen hat und so eher als weiser besonnener Staatsmann denn auf die Feinde gebieterisch und überlegen Herabblickender erscheint. Auch finden sich die Bilder des Kaiserpaares entfernt und an ihre Stelle das von Napoleon I., des Onkels von Napoleon III., gesetzt. Die letzte der Abbildungen, die wie die bereits gezeigte Abb. A 27 aus der Hand der Malerin Clara von Both-Wimpffen stammt, stützt sich auf Anton von Werners zweite Version des sich zum Aufbruch anschickenden Generals von Wimpffen, wobei sie jedoch nachempfindend und nachkorrigierend im Sinne der Angleichung an die damalige Realität das Bild Napoleons I. entfernt, General Moltke ebenfalls in Sitzstellung bringt und dieses alles so erklärt: Mit Sicherheit war ein solches Bild damals im Raum nicht vorhanden und es ist nicht anzunehmen, dass die Beteiligten stundenlang standen.
Jetzt sei der Bericht des Rittmeisters D’Orcet zu Ende geführt:
„In diesem Augenblick nahm Graf Bismarck noch einmal das Wort: ‚Ja, General, Sie verfügen über tapfere Soldaten und Ihre erneuten Anstrengungen werden uns neue, herbe Verluste verursachen; aber wozu kann es dienen? Morgen Abend werden Sie nicht weiter sein wie heute und nur das Bewußtsein wird Sie begleiten, das Blut Ihrer und unserer Soldaten nutzlos vergossen zu haben. Soll eine momentane Verstimmung über das Schicksal dieser Conferenz entscheiden! General v. Moltke wird Ihnen, wie ich hoffe, den Beweis führen, daß jeder Widerstand von Ihrer Seite vergeblich ist.’
Man setzte sich wieder. General v. Moltke nahm das Wort: ‚Ich bestätige aufs Neue, daß ein Durchbrechungsversuch nie und nimmer gelingen kann; denn abgesehen von unserer großen Ueberlegenheit an Truppen und Artillerie, verfügen wir auch über Positionen, von denen aus wir im Stande sind, Sedan in zwei Stunden in Brand zu schießen.’
‚O, diese Positionen sind nicht so stark, wie Sie sie schildern,’ unterbrach v. Wimpfen.
‚Sie kennen nicht die Topographie der Umgebung von Sedan,’ fuhr General v. Moltke fort, ‚und hier ist so recht ein Fall gegeben, um die Einbildungen Ihrer Nation an einem Musterbeispiel zu zeigen. Bei Beginn des Feldzuges sind Karten von Deutschland an alle Offiziere der französischen Armee vertheilt worden und so haben Sie sich selber des Mittels beraubt, in entscheidenden Momenten sich im eigenen Lande zurechtfinden zu können. Es ist, wie ich gesagt habe: unsere Positionen sind nicht nur sehr stark, sie sind unangreifbar.’
General v. Wimpffen fand keine Antwort; er fühlte zu sehr die Wahrheit dessen, was gesagt worden war. Nach einer Pause bemerkte er: ‚Ich würde gern von dem Anerbieten Nutzen ziehen, das Sie mir, General, bei Beginn unserer Unterredung gemacht habe; gestatten Sie mir, zur Kenntnißnahme Ihrer Positionen einen meiner Offiziere absenden zu dürfen. Nach seiner Rückkehr will ich meine Entscheidungen treffen.’
‚Schicken Sie Niemanden, es ist nutzlos,’ erwiderte General v. Moltke trocken, ‚Sie können mir glauben. Ueberdies bleibt nicht viel Zeit zu Ueberlegungen. Es ist Mitternacht, um 4 Uhr früh läuft der Waffenstillstand ab und ich kann Ihnen keine längere Frist bewilligen.’
‚Unter allen Umständen kann ich eine so wichtige Entscheidung nicht allein treffen,’ replizirte Wimpffen, ich muß meine Generale zu Rathe ziehen. Wo soll ich Sie zu dieser Stunde in Sedan finden; eine bestimmte Antwort bis um 4 Uhr zu geben, ist unmöglich; eine kurze Verlängerung des Waffenstillstandes scheint mir unerläßlich zu sein.’
Als General von Moltke dies verweigerte, neigte sich Graf Bismarck etwas nach rechts und flüsterte ihm einige Worte zu, die wahrscheinlich darauf hinwiesen, daß der König erst um 9 Uhr einträfe, und daß es nöthig sein werde, dies Eintreffen abzuwarten. Gleichviel, General v. Moltke wandte sich nach diesem kurzen, in gedämpfter Stimme geführten Zwiegespräch an v. Wimpffen, um ihm mitzuteilen, daß der Waffenstillstand bis 9 Uhr verlängert werden solle.
Hiernach war die Conferenz im Wesentlichen beendet; was noch gesprochen wurde, betraf einige Details, für den Fall eines Zustandekommens der Capitulation. Im Prinzip (diesen Eindruck gewann ich) war, als die Unterredung schloß, die Capitulation seitens des Generals v. Wimpffen angenommen. Daß er den sofortigen Abschluß vermied, geschah einerseits um den Schein zu retten, andererseits um die Verantwortlichkeit dadurch nach Möglichkeit zu verringern, daß er die übrigen Generale zu Mitträgern dieser erdrückenden Last machte.“
Damit bleibt die denkwürdig gewordene „Conferenz von Donchery“ für General von Wimpffen unter den zweifellos stimmigen und damit zwingend-erdrückenden Argumenten Moltkes und Bismarcks so gut wie ohne Erfolg. Wimpffen begibt sich zum Schloss und dort wird gegen nachts 1 Uhr des 2. September der Kaiser geweckt und über die hart erscheinenden Bedingungen unterrichtet. Dieser erklärt, er wolle um 5 Uhr früh das deutsche Hauptquartier aufsuchen und werde dann sehen, ob der König von Preußen günstiger gesonnen sei. Da Wimpffen im nun aufgesuchten Hotel keinen Schlaf findet, durchläuft er ruhelos die Stadt und wacht den Morgen heran. Um 7 Uhr versammelt sich der aus den anderen Korps-Kommandeuren DUCROT, DOUAY und LEBRUN sowie den zwei Divisions-Generalen und Kommandeuren der Artillerie und des Genie-Korps zusammengesetzte Kriegsrat. Dieser erkennt nach dem zusammenfassenden Bericht Wimpffens vor allem im Blick auf die fehlende Munition, Nahrung und Kommunikation sowie die Überfüllung der Stadt und die Umstellung durch die feindliche Artillerie der Forderung der Kapitulation (Waffenniederlegung, Kriegsgefangenschaft der Soldaten wie der Offiziere, die ihre Degen und Epauletten behalten dürfen) sich den Forderungen nicht zu verschließen. Die Unterschrift zum erstellten Protokoll, in dem die gestellten Bedingungen des Feindes unter Angabe der Gründe Anerkennung finden, wird allerdings von den beiden Divisions-Generalen mit der Begründung, diese seien unehrenhaft, verweigert. Noch vor 9 Uhr erhält das deutsche Hauptquartier Kenntnis von der Annahme der Kapitulation und deren Bedingungen, so dass der Wiederbeginn des Bombardements unterbleibt. Etwa um 9 Uhr kommt GENERAL VON MOLTKE dem KÖNIG WILHELM auf der Chaussee von Vendresse, dem Ort des Hauptquartiers, nach Donchery entgegen, legt diesem den Kapitulations-Entwurf vor und bekommt dessen Zustimmung.
Jetzt ist aber noch der genaue endgültige Wortlaut der Kapitulation festzulegen. Dazu begibt sich WIMPFFEN um 10 Uhr zum bei Frénois gelegenen Schlösschen Bellevue, wohin sich die preußischen Generale von Donchery aus begeben haben. Als er gegen 10 ¼ Uhr die Höhe von Frénois erreicht, begegnet er dort KAISER NAPOLEON, der sich ebenfalls nach dorthin aufgemacht hat. Dieser hat sich bislang vergeblich bemüht, auf KÖNIG WILHELM zu treffen, der eine Begegnung erst nach Abschluss der Kapitulation zulassen will. Stattdessen hat der Kaiser auf seinen Wunsch hin in aller Morgenfrühe ein eingehendes Gespräch mit dem Einverständnis des Königs mit GRAF BISMARCK führen können, das in dem und vor dem dadurch legendär werdenden einsamen sog. Weberhäuschen bei Donchery stattgefunden hat. Als Wimpffen neben dem Wagen des Kaisers hält, fragt er: „Was haben Ew. Majestät erhalten?“ Dieser erklärt: „Nichts. Ich habe den König noch nicht gesehen.“ Wimpffen meint darauf: „Dann bleibt es also bei den alten Bedingungen. Diese werden die Basis der Kapitulation bilden.“
Daraufhin setzt KÖNIG WILHELM mit Gefolge seinen Weg Richtung Schloss Bellevue bei Frénois fort, das halben Wegs zwischen Sedan und Donchery kaum 500 Schritt von der Chaussee entfernt auf einer mäßigen Anhöhe gelegen ist. Dort trifft er auf seine preußischen Widerpartner der Verhandlungen der Nacht. Um 12 Uhr ist alles geregelt, die Kapitulation abgeschlossen und das zweisprachige Protokoll mit „Gegeben zu Frénois, am 2. September 1870“ bzw. „Fait Frénois, le 2 septembre 1870“ sowie „v. Moltke“ – „v. Wimpffen“ unterzeichnet. Dessen Text (deutscher Teil) lautet:
„Protokoll.- Zwischen den Unterzeichneten, dem Generalstabschef des Königs Wilhelm von Preußen, Oberfeldherren der deutschen Armeen, und dem General en Chef der französischen Armee, Beide mit Vollmachten von Ihren Majestäten, dem König Wilhelm und dem Kaiser Napoleon versehen, ist die nachstehende Convention abgeschlossen worden:
Art. 1. Die französische Armee unter dem Oberbefehl des Generals v. Wimpffen, giebt sich, da sie gegenwärtig von überlegenen Truppen bei Sedan eingeschlossen ist, kriegsgefangen.
Art. 2. In Rücksicht auf die tapfere Verteidigung dieser französischen Armee werden alle Generale, Offiziere und im Range von Offizieren stehenden Beamten hiervon ausgenommen, sobald dieselben ihr Ehrenwort schriftlich abgeben, bis zur Beendigung des gegenwärtigen Krieges die Waffen nicht wieder zu ergreifen und in keiner Weise den Interessen Deutschlands zuwider zu handeln. Die Offiziere und Beamten, welche diese Bedingungen annehmen, behalten ihre Waffen und ihre ihnen persönlich gehörigen Effecten.
Art.3. Alle Waffen und Kriegsmaterial, bestehend in Fahnen, Adlern, Kanonen, Munition etc., werden in Sedan einer von dem französischen General eingesetzten militairischen Commission übergeben, die sie sofort den deutschen Commissären überantworten wird.
Art. 4. Die Festung Sedan wird in ihrem gegenwärtigen Zustande und spätestens am 2. September Abends zur Disposition Sr. Majestät des Königs von Preußen gestellt.
Art. 5. Die Offiziere, welche nicht die im Art. 2. erwähnte Verpflichtung eingegangen sind, sowie die Truppen, werden entwaffnet und geordnet nach ihren Regimentern oder Corps in militairischer Ordnung übergeben. Diese Maßregel wird am 2. September anfangen und am 3. beendet sein. Es werden diese Detachements auf das Terrain geführt, welches durch die Maas bei Iges begrenzt ist, um den deutschen Commissären durch die Offiziere übergeben zu werden, welche dann ihr Commando ihren Unteroffizieren abtreten.
Art. 6. Die Stabsärzte sollen ohne Ausnahme zur Pflege der Verwundeten zurückbleiben.“
Gegenüber dem Ergebnis der in der Nacht verhandelten Kapitulationsbedingungen enthält dieser Text in Art. 2 und indirekt auch in Art. 5 die Bewilligung der Entlassung der Offiziere auf ihr schriftliches Ehrenwort, was am Schluss des großen Berichts Bismarcks an den König von Preußen vom 2. September über seine Begegnung mit dem Kaiser Napoleon folgendermaßen gewertet wird:
Die Bewilligung der Entlassung der Offiziere auf ihr Ehrenwort wurde mit lebhaftem Dank entgegenommen, als ein Ausdruck der Intentionen Ew. Majestät, den Gefühlen einer Truppe, welche sich tapfer geschlagen hatte, nicht über die Linie hinaus zu nahe zu treten, welche durch das Gebot unserer politisch-militärischen Interessen mit Nothwendigkeit gezogen war. Diesem Gefühle hat der General v. Wimpffen auch nachträglich in einem Schreiben Ausdruck gegeben, in welchem er dem General v. Moltke seinen Dank für die rücksichtsvollen Formen ausdrückt, in denen die Verhandlungen von Seiten desselben geführt worden sind.“
Jetzt steht einem Zusammentreffen zwischen dem siegreichen KÖNIG WILHELM VON PREUßEN und dem sich diesem preisgegebenen KAISER NAPOLEON, die sich drei Jahre zuvor auf dem Höhepunkt dessen Macht anlässlich der großartigen Weltausstellung in Paris zuletzt begegnet sind, nichts mehr im Wege. Und so begibt sich jener um frühmittags 1 Uhr des 2. September von der Höhe von Donchery her, wo er zuvor von Graf Bismarck und General von Moltke über die abgeschlossene Kapitulation ins Bild gesetzt worden war, nach Schloss Bellevue, wo Napoleon sich bereits am Vormittag eingefunden und zunächst vergeblich auf eine persönliche Begegnung mit König Wilhelm gewartet hatte. Über die im Mittelsaal des Schlösschens stattgefundene alleinige Begegnung, währendder der Kronprinz im Gartensaal und das halbe Dutzend der landesfürstlichen Begleiter vor diesem verbrachten, erfahren wir aus einem am Folgetag vom König an die Königin geschriebenen Brief nur Folgendes:
„Der Besuch währte eine Viertelstunde; wir waren Beide sehr bewegt über das Wiedersehen. Was Ich alles empfand, nachdem ich noch vor drei Jahren Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht gesehen hatte, kann Ich nicht beschreiben.“
Was das weite Feld der ungeheuren Wirkung des „Tages von Sedan“ war, dass am Folgetag des Treffens der Weg des französischen Monarchen in die Gefangenschaft nach Schloss Wilhelmshöhe bei Kassel begann und sich die Gefangennahme von um die 100.000 Soldaten, 39 Generalen, unter diesen die beiden Oberfeldherren Mac-Mahon und Wimpffen und sämtliche Corpsführer und Divisionäre, dazu von 230 Stabsoffizieren und 2.095 Subalternoffizieren vollzog, wobei 500 Offiziere denn doch auf Ehrenwort entlassen wurden. Dazu kamen an Kriegsbeute 12.000 Pferde, 350 Feldgeschütze, 70 Mitrailleusen, viele Trophäen (wie es heißt), überaus vieles Armeematerial u. v. a. m. Nicht zu übergehen: Der bittere, doch angesichts des glanzvollen Sieges als mäßig eingeschätzte Preis auf der deutschen Siegerseite von etwa 9.500 „Verlusten“ (Toten und Verwundeten). Kaum auch zu reden, von dem schlimmen Bild, dem Leid, der Not, das die Stätten der Kämpfe um Sedan und besonders auch die Stadt selbst nach dem Schweigen der Waffen als Resultat des Schlachtgeschehens boten.
Nunmehr beladen mit dem Fluch der Unterzeichnung der Kapitulationsuerkunde und fortab abschätzig bei Freund und Feind bezeichnet mit dem Über- bis Unnamen „Sedangeneral“, kehrt EMMANUEL FÉLIX DE WIMPFFEN nach Abschluss der Unterzeichnung der Kapitulation in Schloss Bellevue nach Sedan zurück. Folgt man seinen Aufzeichnungen, so haben sich Offiziere und Mannschaften in die deprimierenden Dinge geschickt; er habe kein bitteres Wort gehört. In Wirklichkeit befindet sich die Armee in völliger Desorganisation und ist alle Disziplin aufgelöst. Es geht drunter und drüber. Ein Bericht über das wüste Schauspiel jener Stunden der völligen Demoralisation, Auflösung jeglicher Disziplin, Ausbrüche der Wut und Gewalt über die verlorene Schlacht etc. würde noch viele weitere Seiten füllen. Wimpffen sieht sich jedoch jetzt seiner Funktion und Pflichten als General und Oberbefehlshaber der Armee von Sedan enthoben und verabschiedet sich von seinen Truppen am Nachmittag des 2. September über einen Aufruf. Dieser lautet in Übersetzung:
„P r o c l a m a t i o n.
Soldaten! Gegen sehr überlegene Kräfte habt Ihr Euch gestern geschlagen. Von frühem Morgen an bis in die Nacht habt Ihr dem Feinde mit größtem Muthe Widerstand geleistet und Eure letzte Patrone verschossen. Erschöpft vom Kampfe, habt Ihr der Aufforderung Eurer Generale und Offiziere, Euch bis Montmedy durchzuschlagen und dem General Bazaine die Hand zu reichen, nicht nachkommen können. Zweitausend nur sammelten sich, um einen letzten Versuch zu wagen. Sie konnten über Balan nicht hinaus und kehrten nach Sedan zurück, wo Euer General sich mit Schmerz überzeugen mußte, daß weder Magazine noch Munition vorhanden seien.- Man konnte nicht daran denken, einen Platz zu vertheidigen, dessen ganze Lage ihn unfähig machte, einer zahlreichen und gewaltigen feindlichen Artillerie zu widerstehen.- Die innerhalb der Mauern der Festung vereinigte Armee vermochte diese weder zu verlassen, noch sie zu vertheidigen; ohne Lebensmittel, sei es für die Bevölkerung, sei es für die Truppen, mußte ich den traurigen Entschluß fassen, mit dem Feinde zu unterhandeln.- Mit Vollmachten seitens des Kaisers ins feindliche Hauptquartier geschickt, konnte ich mich nicht entschließen, die mir gestellten Bedingungen anzunehmen. Diesen Morgen erst, durch ein Bombardement bedroht, auf das wir außer Stande gewesen wären zu antworten, entschloß ich mich zu neuen Schritten und habe Bedingungen erhalten, in denen nach Möglichkeit jene verletzenden Formalitäten vermieden, die, nach Kriegsbrauch, bei ähnlichen Gelegenheiten dem Besiegten auferlegt werden.- Es bleibt uns, Offizieren wie Soldaten, nichts anderes übrig, als uns mit Ergebung in die Dinge zu finden, gegen die ein Ankämpfen unmöglich ist, da wir, um es zu wiederholen, ohne Munition und ohne Lebensmittel sind.- Mir verbleibt allein der Trost, ein unnützes Massacre vermieden und dem Vaterlande Soldaten erhalten zu haben, von denen es in Zukunft noch gute und glänzende Dienste gewärtigen mag.
Sedan, den 2. September 1870
Der General en Chef‘
v. Wimpffen.“
Als die Proklamation angeschlagen wird, haben bereits Zustände Platz ergriffen, welche die Annahme nahelegen, dass diese von den Wenigsten gelesen worden ist. Wimpffen dankt auch in einem kurzen Schreiben der Einwohnerschaft Sedans für ihre grenzenlose Gastfreundschaft und hebt die harten Entbehrungen hervor, die dieser durch die Versorgung der Verwundeten und Kranken auferlegt ist.
Am 3. September richtet von Wimpffen an General von Moltke folgendes lange Schreiben, in dem er um die Erlaubnis bittet, seine Kriegsgefangenschaft in Württemberg verbringen zu dürfen. Dieses lautet:
„Ich habe die Ehre zu Ihrer Kenntniß zu bringen, daß ich als General en Chef einer kriegsgefangenen Armee die Pflicht zu haben glaube, das Schicksal dieser Armee zu theilen. So bitte ich denn Ew. Exzellenz, mich als Kriegsgefangenen ansehen und den Ort bestimmen zu wollen, wohin ich mich in Deutschland zu begeben habe. Wenn wir über die verschiedenen deutschen Staaten vertheilt werden sollten, so würde ich es als eine Vergünstigung ansehen, nach dem Königreiche Württemberg geschickt zu werden. – Ich hoffe, daß Sie vier Offizieren, die meiner Person attachirt sind, gestatten werden, die Gefährten meines Unglücks zu sein. Es sind:
– Graf d’ Ollone , Capitaine im 12. Jäger-Bataillon;
– Daram, Lieutenant im 92. Linien-Regiment;
– Desgrandchamps , Lieutenant im 6. Husaren-Regiment;
– Marquis de Laizer , Offizier in der Mobilgarde, Auditeur im Staatsrath.
Jeder dieser Offiziere würde von einem Diener begleitet sein; ich selbst habe einen Secretair und eine Ordonnanz.- Ich bitte Ew. Exzellenz, mich alle Maßnahmen in Betreff meiner Reise sowie in Betreff der Reise meines Gefolges wissen lassen zu wollen. Die Convention hat mit Rücksicht auf solche Offizierspferde, die Privateigenthum der betreffenden Offiziere sind, keine Festsetzung getroffen; ich glaube indessen, was mich persönlich angeht, zweier alter Pferde von mir Erwähnung thun zu dürfen, die alle Strapazen mit mir durchgemacht haben, in Italien und neuerdings noch in Afrika und Frankreich. Es sind dies alte Thiere, unfähig noch im Kriegsdienst verwandt zu werden, und so bitte ich denn, sie mir lassen zu wollen.- Ich habe die Ehre, Ihnen für die Wohlgewogenheit zu danken, die Sie nicht aufgehört haben, mir in den Beziehungen zwischen uns (schmerzlich wie dieselben für mich waren) zu bezeigen.- Sobald ich Ihre Entschließungen kenne, werde ich Alles thun, denselben zu entsprechen.
Empfangen Ew. Exzellenz die Versicherung etc. v. Wimpffen, Divisionsgeneral.“
f. Wie Emmanuel Félix de Wimpffen, seinem Wunsch entsprechend, die fünf Monate seiner Kriegsgefangenschaft in Stuttgart hinter sich bringen darf, während der er sich intensiv dem Studium der deutschen Schulerziehung widmet und woraus er die Grundzüge seiner nach seiner Rückkehr nach Frankreich herausgebrachten Rechtfertigungsschrift „Sedan, par le Général de Wimpffen“ entwickelt.
Die Affinität des EMMANUEL FÉLIX DE WIMPFFEN zu Stuttgart und darüber hinaus zum Königreich Württemberg geht sicherlich darauf zurück, dass im Zeitraum von 1762 – 1774 sieben der elf Geschwister seines Vaters, d. h. sieben seiner Oheime und Tanten, in Stuttgart oder in Ludwigsburg geboren sind, dazuhin im Zeitraum von 1761 bis 1865 sieben enge männliche Verwandte von ihm im Herzogtum bzw. ab 1806 Königreich Württemberg militärische und/oder auf Hofämter bezogene Karriere gemacht und vielfach hohe bis beinahe höchste Ämter bekleidet hatten, von denen zwei sogar in Stuttgart gestorben waren. Nicht zu vergessen dazuhin zwei weibliche solche, und zwar Kusinen desselben, die zumindest durch ihre Geburt in Stuttgart, davon in einem Fall zudem zeitweilige Tätigkeit als Kammerfrau am dortigen Hofe mit der württembergischen Residenz verbunden waren. Diese sollen nachfolgend alle mit Ausnahme von Nr. 1 ohne genauere Lebensbeschreibung nur unter Nennung von nur wenig mehr als dem Verwandtschaftsverhältnis und Namen, der Lebenszeit und des in Württemberg erreichten Ranges aufgeführt werden. Diese lassen sich alle unschwer in von Wurzbachs II. Stammtafel ausmachen. Die unter Nr. 6, 7, 8 und 9 Aufgeführten werden später im Kapitel G.6 im Rahmen des dort geschilderten Zuzugs des WILHELM VON WIMPFFEN (1820 – 1879) in Wimpfen am Neckar und dortigen Tod der Jahre 1875 bis 1879 in Erscheinung treten.
- Sein bereits vorgestellter Großvater väterlicherseits FRANZ LUDWIG (1732 – 1800), der Begründer des c) Franzens-Zweiges, war – wie schon gezeigt – in jungen Jahren vom französischen in den württembergischen Militärdienst getreten, wo er von ca. 1761 bis 1776 verblieben, Angehöriger des engsten Kreises der Höflinge geworden war und es bis zum Leiter des Kriegsdepartements (Kriegsratspräsidenten) gebracht hatte. Diesem war sogar die hohe Ehre der Verleihung seines Namens an eines der württembergischen Regimenter zuteil geworden. In diesem Zeitraum waren zwei von dessen sechs Söhnen sowie fünf von dessen sechs Töchtern, d. h. zwei der Oheime und fünf der Tanten väterlicherseits des Emmanuel Félix, in Stuttgart bzw. Ludwigsburg zur Welt gekommen; und die zwei ältesten der Oheime desselben namens FRANZ GEORG (geboren 1760) und FRANZ KARL EUGEN (geboren 1762) waren dort sogar in die berühmte spätere „Hohe Carlsschule“ aufgenommen gewesen.
- Der Sohn seines ältesten Großonkels STANISLAUS (1721 – 1793), d. h. der Großvetter von Emmanuel Félix desselben Namens FRANZ LUDWIG (1752 – 1823), hatte es bis zum Major und Ersten Kammerherren der württembergischen Königinwitwe CHARLOTTE MATHILDE gebracht und war sogar in Stuttgart verstorben.
- Der nächstjüngere Sohn des vorgenannten Großonkels namens GERMAIN bzw. HERMANN (1754 – 1820), d. h. ein weiterer Großvetter des Emmanuel Félix, hatte nach der im August 1792 erfolgten Absetzung und Einkerkerung des Monarchen und dessen Familie seinem Land den Rücken gekehrt und war schließlich um 1800 ebenfalls in militärisch-diplomatische Dienste des Herzogs von Württemberg getreten, doch von Kaiser Napoleon 1812 wieder nach Frankreich zurückbeordert worden.
- Des Letztgenannten jüngster Bruder CHRISTIAN FRIEDRICH (1756 – 1824) war zunächst als Gardelieutenant und Hofjunker in herzoglich-württembergische Dienste getreten, jedoch bald in kaiserlich-österreichische Militärdienste übergewechselt und hatte sich dann in Böhmen niedergelassen.
- Der jüngste Onkel des Emmanuel Félix namens FRIEDRICH WILHELM (1784 – 1845), der Begründer der Württembergischen Nebenlinie des Franzens-Zweiges, war früh in württembergische Dienste getreten und hatte in Stuttgart die Funktionen eines wirklichen Kammerherren, Generalmajors und Adjudanten von König Wilhelm I. von Württemberg erlangt. Wie sein Vetter FRANZ LUDWIG ist er in Stuttgart verstorben.
- Der ältere der zwei in Stuttgart geborenen Söhne des Vorgenannten namens WILHElM (1820 – 1879), d. h. Vetter des Emmanuel Fèlix, hatte es zwar nur bis zum Rittmeister und württembergischen Kammerherren gebracht. Er und sein jüngerer Bruder
- DAGOBERT (1821 – 1881), d. h. der andere Stuttgarter Vetter des Emmanuel Félix, waren Jugendgespiele von KRONPRINZ (ab 1864 KÖNIG) KARL und somit in die Stuttgarter Hofgesellschaft fest integriert gewesen. Der Letztgenannte hatte den Rang eines Majors, Adjudanten sowie Reisemarschalls des Kronprinzen, dazuhin wie sein Bruder eines württembergischen Kammerherren erreicht.
- Von den beiden ebenfalls in Stuttgart geborenen Töchtern des FRIEDRICH WILHELM, d. h. Kusinen des Emmanuel Félix, KATHARINA (1818 – 1875) und PAULINE (1822 – 1900) war die letztgenannte in den 1840er Jahren vor ihrer Heirat mit dem GRAFEN GUSTAV ADOLF FELIX VON WIMPFFEN (1805 – 1880) im Stuttgarter Schloss wohnende Hofdame gewesen.
- Ausgangs der 1820er Jahre hatte FRIEDRICH WILHELMS fünftälteste der sechs Schwestern und Tante des Emmanuel Félix, das FREIFRÄULEIN AMALIE VON WIMPFFEN (geb. 1774), bei diesem und seiner Familie sowie später beim älteren ihrer beiden Neffen Wilhelm gewohnt und war in Stuttgart 1855 im Alter von rd. 80 Jahren verstorben.
General von Moltke entspricht, um nun wieder zum weiteren Schicksal des „Sedangenerals“ zurückzukehren, noch am selben Tag durch ein Schreiben allen seinen Wünschen und versieht ihn mit einem weiteren solchen, das ihm und seinen Begleitern freien Weg als Kriegsgefangener über Belgien und Aix-la-Chapelle nach Stuttgart bescheinigt und Anweisung erteilt, diesem auf seinem Weg keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten. Und so brechen Wimpffen und sein Gefolge bereits am 4. September aus dem völlig aus den Fugen geratenen Sedan nach Stuttgart auf. Sie übernachten im belgischen Dorfe Fays-sur-Veneurs, wo der Unglückliche am 5. September seinen ersten umfangreichen Bericht an den Kriegsminister über die Schlacht bei Sedan und die Kapitulation abfasst und seinem Freund eine Kopie davon schickt. Dem Letztgenannten sendet er am 6. September von Aix-la-Chapelle aus einen ergänzenden Brief, der am Schluss die folgende ebenso erbitterte wie wohl höchst fragwürdige Feststellung trifft:
„Si l’Empereur avait répondu à mon appel, il est plus que probable q’une partie au moins de l’armée ne serait pas prisonnière, et moi je n’aurais pas eu cette tache d’une capitulation.“
Frei übersetzt: „Wenn der Kaiser auf meinen Appell reagiert hätte, wäre es mehr als wahrscheinlich, dass wenigstens ein Teil der Armee sich nicht in Gefangenschaft befände, und ich hätte nicht diesen Schandfleck einer Kapitulation auf mich geladen.“
Über Aachen geht die Reise weiter nach Stuttgart, dem Ort, der ihm, entsprechend seinem Wunsch, von Generalstabschef Helmuth von Moltke als derjenige seiner Gefangenschaft zugewiesen worden ist. Die in der
- Abb. A 29: Bericht in „Schwäbische Kronik, des Schwäbischen Merkurs zweite Abtheilung. III. Blatt“ vom 11. September 1870 über die Ankunft und Unterbringung von General von Wimpffen mit seiner neunköpfigen Begleitung in Stuttgart
gezeigte Meldung lässt erkennen, dass dessen Ankunft dort am Abend des 9. September erfolgt und die gesamte Offiziersschar dort im bestrenommierten Hotel Marquardt, Ecke Königstraße/Schlossstraße (heute Bolzstraße; dort die „Komödie im Marquardt“), untergebracht worden ist. Unter den genannten neun begleitenden Offizieren befinden sich auch drei der vier im Brief an General von Moltke als Begleiter gewünschten Offiziere; es fehlt nur Lieutenant Desgrandchamps. Leider wird die Hoffnung betrogen, Weiteres über den Ablauf dieser rund fünf Monate in Stuttgart vollzogenen Gefangenschaft aus diesem auf die Ereignisse des engeren Raumes gerichteten Blattes oder dem weitgesteckt berichtenden „Schwäbischen Merkur“ zu erfahren. Offenbar bestand in der Öffentlichkeit kein Interesse oder gar Abneigung, sich mit dem als Feind betrachten französischen höchsten Offizier und seinen Begleitern weiterhin zu befassen, zumal ja der Krieg trotz des glänzenden Sieges in der Schlacht bei Sedan höchst sorgenbeladen weiterging. Letzteres ist zu spüren aus den der Meldung angehängten Sätzen über die gleichzeitige Ankunft verwundeter deutscher sowie die Rückkehr einer mit Gefangenen angekommenen Gruppe bayrischer Soldaten zu ihren in Frankreich weiter im Kampf stehenden Regimentern.
Umgekehrt hüllt sich EMMANUEL FÈLIX DE WIMPFFEN ebenfalls, was die äußeren Umstände der Monate der Gefangenschaft angeht, in etwa zwei Jahre danach in Paris erschienenen 76-seitigen Schrift, deren Titel in der nachfolgenden
- Abb. A 30: Souvenirs de captivité – DE L’INSTRUCTION EN ALLEMAGNE par un officier Général – Paris E. Lachaud Libraire-Éditeur 4, Place du theatre – Français, 4 – 1872 (Erinnerungen an die Gefangenschaft. Von der Ausbildung in Deutschland von einem Offizier General – Paris E. Lachaud, Buchherausgeber, Place du Theatre Français, 4 – 1872)
dargelegt ist, fast völlig in Schweigen. Aus dem Vorwort derselben ist zu schließen, dass der Militär aus Passion und familiärem Herkommen EMMANUEL FÉLIX DE WIMPFFEN nach dem (wie er sagt) „Desaster“ der militärischen Niederlage seines Vaterlandes mächtigst von der Frage umgetrieben wurde, warum es Preußen, seines Landes „glühendstem Feind“, und den anderen deutschen Staaten möglich gewesen war, „die Größe und Überlegenheit der Nation durch die Stärke der Waffen zu erreichen“ und „ein Volk wie das unsere zu besiegen“. Und so entschloss er sich, „die Muße einer schmerzlichen Gefangenschaft dem gründlichen Studium der Sitten und Institutionen unserer Sieger zu widmen“, und dies in der Weise, dass er versuchte, „ein getreues Abbild der öffentlichen Bildung, der sittlichen und körperlichen Erziehung der breiten Masse und der gehobenen Schichten der Gesellschaft in Deutschland aufzuzeigen“. Die von ihm „bei ausreichender Kenntnis der Landessprache im Verstehen und Sichverständlichmachen“ unternommenen Besichtigungen einer großen Zahl von Bildungseinrichtungen, so Primarschulen (gemeint: Volksschulen), Gymnasien, Berufs- und Polytechnischen Schulen, dazu Gefängnisschulen, werden, was den weltlichen und religiösen Unterricht, die Erziehung, die Lehrer, die Schulgebäude etc. angeht, ausführlich und vergleichend mit Frankreich beschrieben und beurteilt. Doch bleiben die Namen der besuchten Schulen völlig und die Orte derselben fast ausschließlich ungenannt und somit vollständig in der Anonymität. Nur an zwei Stellen (S. 53 und 58) wird auf „S….“ (gemeint: Stuttgart) als den Ort einer der dort besuchten Schuleinrichtungen hingewiesen und nur einmal (S. 68) durch die Wendung „Pendant ma captivité à S….“ verschlüsselt auf die Stadt Stuttgart als Ort der Gefangenschaft (Préface, S. 3) durch die Wendung „Interné dans une des grandes villes de la Confédération d’Allemagne“ („interniert in einer der großen Städte des Deutschen Reiches“) hingewiesen. Seinen dortigen Aufenthaltsort, das Hotel Marquardt, das ihn und seine zahlreiche Begleiter in schwieriger Zeit aufzunehmen und zu verköstigen hatte, erwähnt er mit keinem Wort. Lediglich dem Wohnquartier, in dem sich dieses Hotel befindet, erteilt er auf Seite 53, bezugnehmend auf eine der von ihm besuchten auf die Berufsausbildung gerichteten Schulen, die folgende Lobspendung: „Dans un des beaux quartiers de la ville, qui m’avait été assigné pour résidence pendant ma captivité se trouve une de ces écoles.“ („In einem der schönen Quartiere der Stadt, die man mir als Wohnsitz während meiner Gefangenschaft angewiesen hatte, befindet sich eine dieser Schulen.“)
Angekündigt unten auf S. 73 durch den Satz „Suivant les considérations que je viens d’émettre, j’arrive aux conclusions suivantes“ („Den nachstehend ausgebreiteten Erwägungen folgend, komme ich zu folgenden Schlussfolgerungen“), stellt der Autor fünf Leitsätze einer nach seinen Erkenntnissen in Frankreich anzustrebenden Unterrichtung und Erziehung heraus. In diesen spricht er sich unter Verweis auf das deutsche Vorbild für die Wahl und Anstellung der Lehrkräfte (Laien wie Geistlichen) durch die Gemeinden und die Gleichschaltung ihrer Examen und Überprüfung sowie deren gute Bezahlung aus, dazu für die Einführung der Schulpflicht, außerdem die Aufgabe der sog. Kasernierung (gemeint: der Internatsunterbringung) der Schüler durch deren Belassung in der Familie. Hier sei im Wortlaut nur der letzte seiner appellativ gefassten Vorschläge aufgeführt, der den Schluss des Buchtexters bildet:
„50 Dans les établissements de l’État, dans les écoles professionelles, dans l’instutitions des particuliers, des études théoriques développant les facultés physiques, de façon à ce qu’à vingt ans, à vingt et un ans au plus tard, le jeune homme soit apte au métier des armes et déjà façonne au maniement du fusil, à la marche, et avant tout: ROMPU A LA DISCIPLINE. FIN.“
Zu Deutsch: „5. In den staatlichen (Schul-)Einrichtungen, in den beruflichen Schulen, in den Privatschulen theoretische Schulausbildung mit Entwicklung der körperlichen Fähigkeiten in der Art und Weise, dass der junge Mensch mit 20 oder spätestens 21 Jahren fähig ist für den Waffendienst und geformt für die Handhabung des Gewehrs, das Marschieren und vor allem: bewandert in der Disziplin. Ende.“
Mit diesem Vorschlag begibt er sich genau in jene Spur, welche die Menschenerziehung nach preußischen Muster im neugegründeten Deutschen Reich verstärkt einschlägt und die EMMANUEL FÉLIX DE WIMPFFEN im Vorwort seiner Betrachtungen folgendermaßen umschreibt:
„Dans l’Allemagne, et surtout dans la partie nord, toute institution, même civile, a pour objectiv l’instruction militaire. Former des généraux capables, des officiers instruits, des soldats disciplinés et robustes, tel est le but.“
(„In Deutschland, und besonders im nördlichen Teil, hat jede, selbst zivile, Einrichtung, wirkliche militärische Schulung, um allgemeine Befähigungen, geschulte Offiziere, disziplinierte und robuste Soldaten zu formen, solches ist der Zweck.“)
Man gewinnt den Eindruck, dass der „Sedangeneral“ von seines Volkes und seiner eigenen Niederlage traumatisiert und somit wie besessen nach den Gründen derselben wie auch nach Abhilfe sucht. Darüber hinaus beginnt er jedoch schon von Stuttgart aus mit der gleichen Leidenschaft, die Rechtfertigung seines Handelns zum Ende des Schlachtengeschehens von Sedan zu betreiben.
Und so schreibt er im Vorwort seiner später noch genauer vorzustellenden und nicht weniger als 382 Seiten umfassenden weiteren Schrift des Titels „Sedan. Par le Général de Wimpffen“, Paris Libraire Internationale 1871, Folgendes:
„Schon in den ersten Augenblicken meiner Gefangenschaft in Stuttgart entschloss ich mich, meine Freizeit mit der Zusammenstellung des notwendigen Materials für eine wahrheitsgetreue Geschichte der ersten unglücklichen Ereignisse des Krieges mit Preußen zu nutzen. Diese Ordnungsarbeit ließ mich einer Masse sehenswerter Dokumente gegenüberstehen.“
So kommt es zunächst dazu, dass er in Stuttgart Briefe sowie Berichte zur Thematik „Schlacht bei Sedan“ schreibt und verschickt. Und in der Tagespresse versucht er nachzuweisen, dass er in dieser das Ziel verfolgt habe, sich durch den Ausbruch Richtung Südost über Bazailles-Carignan durchzuschlagen. Und er erhebt den Vorwurf, dass es vor allem Kaiser Napoleon gewesen sei, der durch sein Nein zu seiner Bitte, er möge in die Mitte seiner Truppen kommen und diese würden es sich zur Ehre anrechnen, den Durchweg zu öffnen, dazuhin dessen Befehl, die weiße Fahne auf den Wällen aufzuziehen, sein Vorhaben verhindert habe. Demgegenüber wird Wimpffens diesbezügliches Billet an den Kaiser von 1 ¼ Uhr des 1. September in der Presse „mit mehr oder weniger Recht“, wie Fontane meint, ins Lächerliche gezogen. Und der seines Landes verwiesene Kaiser Napoleon III. wehrt sich in einem Schreiben vom 3. Oktober 1870 vom Platz seiner Gefangenschaft Wilhelmshöhe bei Kassel aus wie folgt:
„J’ai lu votre rapport officiel sur la bataille de Sedan. Il contient deux assertions que je dois relever.
-Si je n’ai pas répondu à votre appel pour faire une trouée vers Carignan, c’est qu’elle était impraticable, comme l’expérience vous l’a prouvé, et la tentative, je le prévoyais, ne pouvait avoir d’autre résultat que de coûter la vie à un grand nombre de soldats.
-Je n’ai consenti á faire arborer le drapeau blanc, que lorsque, de l’avis de tous les chefs de corps d’armée, toute résistance était devenue imposible. Je n’ai donc pas pu contrarier vos moyens d’action.
Croyez, général, à mes sentiments. NAPOLEON“
Zu Deutsch: „Ich habe ihren amtlichen Bericht über die Schlacht von Sedan gelesen. Er enthält zwei Behauptungen, die ich richtigstellen muss:
-Ich habe auf Ihre Aufforderung, einen Durchbruch nach Carignan zu machen, nicht geantwortet, weil es mir undurchführbar erschien, wie die Erfahrung es Ihnen bewiesen hat, und der Versuch, wie ich es vorausgesehe hatte, kein anderes Resultat haben konnte, als einer großen Anzahl von Soldaten das Leben zu kosten.“
-Ich habe nicht zugestimmt, die weiße Fahne zu hissen, als nach der Meinung aller Korpschefs jeder Widerstand unmöglich geworden war. Folglich habe ich Ihre Pläne nicht durchkreuzen können.-
Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochachtung, mein General NAPOLEON“
Wimpffen will nach seinen Aussagen im Vorwort des erwähnten Buches ursprünglich nur an die Sammlung der mit der Schlacht bei Sedan zusammenhängenden zahlreichen Schriftunterlagen gedacht haben. Doch sieht er sich, nachdem er nach fünfmonatiger Gefangenschaft in Stuttgart etwa Mitte Februar wieder heimkehren kann, aus zwei Gründen veranlasst, nun doch mit einem Buch an die Öffentlichkeit zu treten:
Grund 1: Sein großer erster Bericht über die Schlacht von Sedan vom 5. September 1870 an den Kriegsminister hat – entgegen seiner Erwartung – offiziell keine Veröffentlichung gefunden und er findet diesen wichtigen Schriftsatz bei seiner Vorbeikunft in Versailles im Ministerium am 19. März 1871 nicht oder nicht mehr vor. Am Verschwinden desselben soll, wie Wimpffen erfahren haben will, der von ihm aus dem Oberbefehl der Sedanarmee verdrängte General Ducrot die Hand im Spiel gehabt haben. Hierzu muss man wissen, dass dieser nach der Schlacht bei Sedan sein Ehrenwort gegeben hat, sich in Pont-à-Mousson zu stellen und dieses auch eingehalten hat, aber dort danach in der Verwirrung auf dem überfüllten Bahnhof geflohen und dann Oberkommandierender einer neugebildeten französischen Armee und im Februar 1871 Mitglied der Nationalversammlung mit großem Einfluss geworden ist.
Grund 2: Seit seiner etwa Ende Januar erfolgten Entlassung als Kriegsgefangener und Rückkehr nach Frankreich bzw. bald darauf wieder nach Algerien (Wohnsitz Mustapha bei Algier) habe er vergeblich versucht, Gunstbezeigungen durch den Kriegsrat zu erfahren, die seine Führung (in der Schlacht bei Sedan) hätten anerkennen können. Er habe keinerlei Antwort auf seine berechtigte Bitte bekommen. Der Regierungschef habe vor der Kammer und damit vor dem Land die Kommandanten und Chefs der Armee von Metz und von Châlons glorifiziert. Aber niemand habe ein Wort zu seiner Rechtfertigung hören lassen. Er findet, dass diese Situation nicht mehr erlaube, Schweigen zu bewahren und er glaubt, einfach und wahrhaftig die Ursachen, die das unvermeidliche Desaster von Sedan herbeigeführt haben, darlegen zu müssen.
Und so fertigt er eine Art Rechtfertigungsschrift, die 1871 in Paris erscheint und deren Titel oben bereits aufgeführt worden ist. Unter dem Titel fügt er drei Zeilen bei, die seine auf den Zweck des Buches zielende Devise präsentieren: „Quorum pars magna fui.- VIRG. Énéide. – Suum cuique“, übersetzt aus dem Lateinischen (Anfangs- und Endteil) und dem Französischen (Mittelteil): „Worin ich eine große Rolle spielte (oder auch: ‚Wozu ich zu bedeutendem bzw. wesentlichem Teil mittrug’ bzw. ‚Wovon mir großer Anteil zukommt’) Vergil. Aeneis – Jedem das Seine“. Siehe dazu die
- Abb. A 31: Das Titelblatt von Emmanuel Félix de Wimpffens Rechtfertigungsschrift.
Der erste Teil ist, wie er konstatiert, der Aeneis, dem zwölfteiligen Heldenepos des römischen Dichters Vergil, entnommen, und zwar der 6. Zeile des 2. Buches (Aeneis 2.6), die zum „Gefügelten Wort“ geworden und dann zu verwenden ist, wenn es gilt, seine Mitwirkung bzw. seine Verdienste an einer Sache zu reklamieren. Dieses wird durch den aus den antiken philosophischen Theorien der Moral und Politik hergeleiteten Endteil „Suum cuique“ bekräftigt. Letzteres ist im Doppelsinn gemeint, d. h. im Sinne sowohl des Individuums als auch der Gesellschaft: Jeder soll das Seine (ihm Mögliche) tun, aber Jedem soll auch das Seine (Verdiente) zukommen. Zweifellos fühlt sich der Sedangeneral bezüglich seines Handelns in der Schlacht bei Sedan gegenüber den Mitgenerälen unverdient kritisiert und zurückgesetzt und will dies konkret durch seine Veröffentlichung anmahnen.
Auf den nicht weniger als 377 Seiten des Kerntextes holt er zum Zecke seiner Rechtfertigung weit aus, bezieht auch eröffnend die rühmlichen Erinnerungen und Urkunden aus seiner Zeit davor als Gouverneur in Oran sowie so vollständig wie möglich die Vorgeschichte der Schlacht von Sedan mit ein, dazu eine große Anzahl von mit dieser zusammenhängenden Brief- und Urkundentexten, worauf sich Theodor Fontane zwei Jahre später bei der Abfassung seines Buchtextes vielfach beziehen wird. Der Text gipfelt in dem von den Militärs beider Seiten und ganz besonders von General Ducrot beanstandeten und sich auf die Sinnhaftigkeit seiner viel bestrittenen und umstrittenen Durchbruchsthese beziehendes Satzpaar:
„Meine Angreifer und Verleumder, wie sie besonders in der Umgebung des Kaisers waren, haben ein nobles Unternehmen, wie ich es vorhatte, zu einer Thorheit stempeln wollen. Nichtsdestoweniger bin ich auch jetzt noch überzeugt, daß ein mit 15- oder 20,000 Mann unternommener Angriff auf die feindliche Linie von Erfolg gekrönt gewesen wäre.“
Indem er darüber hinaus aber insbesondere Beschuldigungen gegenüber General Ducrot und den Kaiser erhebt, fällt das erwartete Echo negativ aus und beschwört er heftige Kritik herauf.
Der sich beschuldigt und in seiner Ehre schwer angegriffene fühlende General Ducrot veröffentlicht umgehend noch 1871 eine Verteidigungsschrift von 169 Seiten, deren gleichartig gehaltene Titelfassung „La journée de Sedan, par Le Général Ducrot“ die Bezugsetzung auf Wimpffens Werk von vorneherein deutlich zu machen versteht. Wie er dort im Vorwort vom 18. September 1871 darlegt, ist diese ungerechtfertigte Beschuldigung fünffacher Art:
- Er habe einen Mangel an Ehrenhaftigkeit dadurch gezeigt, dass er seinen Einfluss bei Kriegsminister General Trochu dahingehend geltend gemacht habe, die Veröffentlichung seines Berichts über die Schlacht von Sedan zu vereiteln.
- Er habe durch falsche Manöver das Tagesgeschick gefährdet und so das verhängnivolle Desaster von Sedan vorbereitet.
- Er habe das Schlachtfeld vor der Zeit verlassen.
- Er habe sich geweigert, den Anordnungen des Chefgenerals zu gehorchen, alsdann habe er Hilfe abgelehnt.
- Er habe den Kaiser aufgefordert, die Parlamentärfahne zu hissen und zu kapitulieren.
Abschließend drückt Ducrot in seiner Vorbetrachtung die Erwartung aus, dass die Verantwortung dieser bedauerlichen Polemik auf jenen zurückfällt, der diese wachgerufen hat…., „comme l’a dit le général de Wimpffen (so wie es General von Wimpffen gesagt hat): suum cuique“ (Jedem das Seine).
Es ist hier leider weder der Platz noch der Ort, die aus der Sicht des Autors zu seiner Entlastung dargestellten Vorgänge sowie zahlreichen Schriftsätze um die Schlacht bei Sedan hier weiter auszubreiten. Eine Haltungsänderung Wimpffens hat Ducrots Schrift nicht erreicht, im Gegenteil. Noch 1871 und 1872 in durchgesehener und korrigierter 2. Auflage erscheint eine 75-seitige Erwiderungsschrift unter dem Titel „Le Général de Wimpffen. Réponse au Général Ducrot par un officier supérieur“, Paris. Libraire Internationale, aus der Feder eines nicht mit Namen genannten „Camarade d’école“ (Schulkameraden). Die knappe Hälfte (S. 3 – 32) derselben nimmt eine als biographisch wertvoll anzusehende Lebensbeschreibung ein (Première partie: La vie militaire du Général de Wimpffen), die oben im eröffnenden Lebensgang natürlich nur ansatzweise ausgeschöpft werden konnte. Dann folgt eine weitere knappe Hälfte mit Bemerkungen zur Veröffentlichung desselben (Seconde partie: Observations sur l’opuscule du Général de Wimpffen, S. 33 – 64), welche auf die fünf Beschuldigungen und die Entgegnungen hierzu ausgerichtet ist. Den Rest bilden einige Briefe Wimpfens an den Freund (S. 65 – 75). 1875 folgt eine Neuflage von Ducrots „La Journée …“ und 1887 aus den nachgelassenen Papieren Wimpffens eine weitere Rechtfertigungs-Schrift unter dem Titel „La bataille de Sedan, les véritables coupables“ („Die Schlacht bei Sedan, die wahrhaft Schuldigen“). Diese erscheint 1889 in Augsburg auch in einer deutschen Ausgabe. Also, und die Beifügung „wahrhaft“ belegt dies schlagend, eine Kette gegenseitiger Beschuldigungen ohne versöhnliches Ende.
g. Wie Theodor Fontane in seinem Werk über den Deutsch-Französischen Krieg den „Sedangeneral“ rückblickend zwar als guten und tapferen Divisiongeneral einschätzt, ihm aber die Fähigkeit der Lenkung einer großen Schlacht abspricht.
Um abschließend die „wahrhafte“ Einschätzung der Persönlichkeit des Emmanuel Félix de Wimpffen und seiner Handlungsweise in den letzten beiden Tagen der Schlacht bei Sedan als Befehlshaber des 5. Korps (an der Stelle von General Failly) sowie Oberbefehlshaber der Armee von Sedan (an der Stelle von Marschall Mac-Mahon bzw. von General Ducrot) zu finden, kehren wir zu Theodor Fontanes Buch zurück. Wichtig erscheint, dass dieser Wimpffens Rechtfertigungs- und Ducrots Verteidigungsschrift und des Erstgenannten Erwiderungsschrift gekannt und die maßgeblichen Inhalte derselben bei der Abfassung seiner Betrachtungen über die Schlacht bei Sedan und über den Sedangeneral eingearbeitet hat. Ergebnis einerseits seiner akribischen Kenntnis der Fakten, andererseits seiner in seinen späteren Romanschöpfungen evident gewordenen herausragenden Begabung, den Handlungs- und Zeithintergrund von Menschen zu erspüren und in unnachahmlicher Sprache zu schildern, schließt er seine Betrachtungen zu den Ereignissen um Emmanuel Félix de Wimpffen auf den Seiten 578 bis 581 des Bandes 1 seines Werkes mit einer meisterlichen umfänglichen Einschätzung von dessen Persönlichkeit (man könnte sagen mit einem Psychogramm) auf dem Handlungshintergrund des 28. August bis 2. September 1870 folgendermaßen ab (die von Fontane zum Zwecke der Hervorhebung gesperrt wiedergegebenen Partien sind hier der Einfachheit halber unterstrichen):
„General v. Wimpffen war ein tapferer Soldat. Mehr denn das, er war ein guter Repräsentant militairischer Ehre und untadeliger Gesinnung. Seine Widersacher haben ihm auch das bestreiten wollen; gewiß mit Unrecht. Ducrot – persönlich erbittert und von jener Leidenschaftlichkeit des Charakters, der ein gerechtes Urtheil überhaupt schwer fällt – hat ihn unbedingt zu hart behandelt, als er ihm vorwarf, um 9 Uhr Vormittags, wo die Dinge in Bazeilles eher gut als schlecht standen, aus Eitelkeit und Großmannssucht das Commando an sich gerissen zu haben. Er glaubte momentan an die Möglichkeit eines Sieges; gewiß. Aber es lag ihm an diesem, nicht an der Indentificirung seiner Person mit diesem Siege. Folgen wir ihm durch die letzten Augusttage.- Von dem Momente seines Eintreffens in Sedan, ja schon vorher, von der Stunde seiner Pariser Abreise an … , gab er die mannigfachsten Beweise psychischen und moralischen Muthes, rascher Entschlußkraft, lebhaften Geistes, starken Vaterlandsgefühls. Im Fluge orientirte er sich, griff im Großen und Kleinen energisch ein, ermuthigte die Schwachen und bestärkte die Starken in ihrem Widerstande. Die Art, wie er sich in Reims … des Husarendetachements versicherte, wie er den Maire von Signy-L’Abbaye belobte und persönlich erfahrene Unbequemlichkeit vergaß, wie er am 30. die Beaumont-Flüchtlinge sammelte, am 31. bei seinem Corps sich einführte, und die Nacht darauf, auf platter Erde schlafend, das Loos des einfachen Soldaten theilte, die Energie, mit der er im entscheidenden Moment das Commando ergriff, gegebene Befehle annullirte, Bedenken beschwichtigte, Widerspruch bekämpfte, um dann, in verzweifelten Kämpfen, erst mit Vielen, dann mit Wenigen den Durchbruch und dadurch die Rettung der Armee zu versuchen, endlich die Entsagung, die er übte, als er seinen Namen unter die Unterwerfungsurkunde setzte, – all das hat in unsern Augen Anspruch auf Achtung bei Freund und Feind. Er war charaktervoll, soldatisch feurig, so lange es noch zu kämpfen gab, ehrenvoll und opferbereit, als das Unglück hereingebrochen, das Unvermeidliche an ihn herangetreten war; in diesem Sinne hat er Anspruch auf die Worte, die General v. Moltke und Graf Bismarck brieflich an ihn gerichtet haben: ‚Im Augenblick, wo Ew. Exzellenz den Oberbefehl übernahmen, wurde die Armee von Sedan, welche sich bis zum Schlusse tapfer geschlagen hat, von uns als eine vollständig verzweifelte betrachtet.*) Ew. Exzellenz kann sich das Zeugniß ablegen, daß kein Oberbefehlshaber für seine Armee bessere Bedingungen erhalten hätte, als die, welche aus persönlichen Rücksichten für Ihre Person bewilligt wurden. Ich würdige mit Erkenntlicheit die wohlwollenden Ausdrücke, mit denen sich Ew. Exzellenz betreffs meiner in Ihrer Veröffentlichung ausgedrückt haben.’ – Aehnlich schrieb Graf Bismarck.“
*) Anmerkung des Theodor Fontane: Die Frage, ob ein Entschlüpfungsversuch über Illy nicht besser gewesen wäre, als ein Durchbruchsversuch über Bazeilles, wird hier seitens Generals v. M. nicht berührt. Die Lage war um 8 Uhr verzweifelt, gewiß; aber der eine kommt aus verzweifelten Lagen besser heraus als der andere.
Hier sei die Wiedergabe von Fontanes Text unterbrochen und darauf hingewiesen, dass Bismarck an Emmanuel Félix de Wimpffen einen Dankesbrief geschrieben hat, nachdem dieser ihm ein Exemplar seines Werkes „Sedan par le Général de Wimpffen“ geschickt hatte. Dieses wertvolle in französischer Sprache gehaltene und nachfolgend gezeigte Dokument ist vor kurzem von seinem jetzigen Besitzer, Dr. Hans H. von Wimpffen, im Rahmen seiner großen Dokumentation im Internet über das Adelsgeschlecht der Von Wimpffen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Dieser Brief Bismarcks an Emmanuel Félix de Wimpffen wurde nach der Auffindung im Nachlass des 2009 verstorbenen großen Politikers der Nachkriegszeit OTTO GRAF LAMBSDORFF der Familie von Wimpffen von dessen Gattin GRÄFIN ALEXANDRA LAMBSDORFF, GEB. VON QUISTORP, geschenkt. Laut Wurzbach befand sich dieser Brief wie auch der in Fontanes Text (siehe oben) teilweise wiedergegebene Brief Moltkes früher im Archiv der gräflichen Linie der Von Wimpffen auf Schloss Kainberg in der Steiermark, wohin diese wohl deshalb gelangen konnten, weil Emmanuel Félix de Wimpffen keine Nachkommen hatte.
Hier sei zunächst die Kopie des original in französischer Sprache verfassten Bismarck-Briefes wiedergegeben:
- Abb. A 32: Dankesbrief des Grafen Bismarck an General Emmanuel Félix de Wimpffen für die Zusendung seines Buches über die Schlacht von Sedan vom 9. Januar 1872.
Es folgt zunächst die Transkription des Brieftextes, anschließend die Übersetzung:
„Son Excellence Monsieur le Général Comte de Wimpffen.- Berlin, le 9 Janvier 1872.- Monsieur le Comte, J’ai reçu la lettre que vous m’avez fait l’honneur de m’adresser en date du 20 dernier de même que votre livre sur les événements de Sedan. Je vous remerçie, mon Général, du souvenir bienveillant que vous gardez de nos entretiens et je me suis réjouie, en lisant votre relation de cet esprit de justice qu’elle respire. Mes sympathies resteront toujours requises à un général qui, ayant fait des preuves ailleurs, ne fut appelé sur le terrain qu’au moment où le sort des armes se trouvait déjà jeté de manière à ne plus laisser de chance à sa bravour et à son genie. Veuillez agréer Monsieur le Général, l’assurance de ma haute considération v. Bismarck“
„Seiner Exzellenz Herrn General Graf von Wimpffen. – Berlin, am 9. Januar 1872 – Herr Graf, Ich habe den Brief, den Sie mir zu schicken die Ehre gegeben haben, unter dem 20. letzten Monats, ebenso Ihr Buch über die Ereignisse von Sedan erhalten. Ich danke Ihnen, Herr General, für die wohlwollende Erinnerung, die Sie an unsere Zusammenkünfte bewahrt haben, und es ist mir eine Freude, Ihren einen solchen Geist der Gerechtigkeit atmenden Bericht zu lesen. Meine Sympathien verbleiben immer einem General, der, nachdem er anderwärts seine Proben abgelegt, auf das Terrain erst im Augenblick berufen wurde, wo das Los der Waffen bereits entschieden hatte. Empfangen Sie, Herr General, die Versicherung meiner großen Hochachtung v. Bismarck.“
Jetzt sei Fontanes Text fortgesetzt:
„So viel über Wimpffen den tapferen Soldaten, den Mann von Ehre und Gesinnung.- Anders freilich stellt sich das Urtheil, wenn wir den Feldherrn Wimpffen ins Auge fassen und nach der Einsicht fragen, die er am Tage von Sedan zu erkennen gab. Hier erschienen uns alle gegen ihn erhobenen Angriffe als berechtigt, und der Verurtheilung zustimmend, die er durch die verschiedensten Stimmen erfahren hat, finden wir es unbegreiflich, daß er sich bei Bazeilles durchkämpfen wollte, während bei Illy noch ein freier Abzug in der Möglichkeit lag. Dies letztere hat Wimpfen freilich bestreiten wollen und sein mehr citirtes Buch ist vorwiegend zu dem Zwecke geschrieben worden, die Unmöglichkeit dieses Abzuges zu beweisen. Aber er ist mit dieser Beweisführung völlig gescheitert. Seine Zeitangaben sind sämmtlich falsch.“
Siehe dazu die nachfolgende Kartenskizze des Schlachtfeldes von Sedan, in der Emmanuel Félix de Wimpffen den Namen und den jeweiligen Standorten der verschiedenen preußischen, bayrischen und württembergischen bzw. französischen Korps und sonstigen Einheiten sowie dem Datum (31. August bzw. 1. September) noch die Uhrzeit hinzugibt:
- Abb. A 33: Kartenskizze „Champ de Bataille de Sedan“ aus dem Werk „Sedan par le Général de Wimpffen“ (Paris 1871).
Nunmehr sei die von Theodor Fontane getroffene Wertung der Handlungsweise des Emmanuel Félix de Wimpffen in der Schlacht bei Sedan zu Ende gebracht:
„Er läßt bereits um 5 Uhr früh unser XI. Corps bei Fleigneux und St. Menges, unser V. Corps bei Vrigne aux Bois stehen, was entweder eine große Unkenntniß verräth oder einen nicht statuirbaren Hang bekundet, die Tathsachen nach persönlichem Bedürfniß zu modeln. Um 5 Uhr früh standen beide Corps bei Donchery noch am linken Ufer der Maas; erst um 6 Uhr waren die Brücken passirt; erst um 8 standen sie in Höhe von Vrigne aux Bois, erst um 10 zwischen St. Menges und Fleigneux. Und zwar höchstens in Stärke von zwei Divisionen. Das ergiebt eine Differenz von fünf Stunden. Mit Recht schreibt Oberst Borbstädt: ‚Wäre der Feind zwischen 9 und 10 Uhr energisch vorgegangen, so wäre es vielleicht möglich gewesen, die preußischen Têten in das Défilée von St. Albert zurückzuwerfen und das Abfahren der Artillerie-Linie zu erzwingen, was auf den Gang der ganzen Schlacht und die Entwicklung der auf einer Straße marschirenden preußischen Marschkolonnen von entschiedenem Einfluß gewesen sein würde.- Es ist nachträglich für jeden, der sehen will, – also für jeden mit alleiniger Ausnahme des Generals v. Wimpffen – ein unbestreitbares Factum, daß um 9 Uhr ein Entkommen der Armee mindestens noch innerhalb der Möglichkeit lag, daß aber unter allen Umständen ein Abzugsversuch über Illy hinaus besser gewesen wäre, als ein Durchbruchsversuch bei Bazeilles; – es fragt sich nur, ob General Wimpffen verpflichtet war, schon damals am Schlachttage selbst, eine Einsicht zu besitzen, über die wir nachträglich Alle verfügen. Wir müssen auf diese Frage antworten: ja, er war dazu verpflichtet. Er hatte sich am 30. mit eigenen Augen davon überzeugt, daß von Süden und Südosten her unsererseits ganze Armeen heranrückten, die stark genug gewesen wären das französische V. und VII. Corps vor sich her zu treiben und unterstützende Brigaden des I. und XII. Corps zu werfen. Meldungen hatten ihm inzwischen bestätigt, daß bei mannigfachen von Mouzon und Carrignan her auf Sedan führenden Straßen von den Unseren überdeckt seien, er mußte also, nach Allem was er gehört und gesehen, mit Sicherheit wissen, daß an seiner Front (nach Osten zu) feindliche Massen vor sich habe. Und trotz alledem hielt er an der Vorstellung fest, daß Alles damit gethan sein würde, die Baiern in die Maas zu werfen. Diese Redewendung kehrt in seinen eigenen Aufzeichnungen beständig wieder. Er sah nicht über das Nächstliegende hinaus; sein geistiges Auge reichte nicht weiter als sein physisches. Er sah immer nur die Baiern und betrachtete die ganze Schlacht als eine Art Zweikampf zwischen dem französischen Corps Lebrun und dem bairischen Corps v. d. Tann. Er schlug nicht eine Schlacht bei Sedan, er schlug nur eine Schlacht bei Bazeilles und hielt, bis es zu spät war, die Vorstellung aufrecht, daß ein Sieg an letztgenanntem Orte (Bazeilles) überhaupt den Sieg bedeuten werde. Er wollte nicht den Abzug über Illy; die Frage ob ‚ausführbar oder nicht’ lag damals seiner Seele noch völlig fern; er wollte einfach siegen, und dieser Sieg, so vermeinte er, war da, wenn die Baiern in die Maas geworfen würden. In diesem Allem sprach sich eine Beschränktheit aus, seine Unfähigkeit, Großes zu umfassen; – die Schlacht war für ihn jedesmal an der Stelle wo er persönlich stand. Er sah sich plötzlich in Verhältnisse hineingestellt, die erheblich über sein geistiges Vermögen hinauslagen; er war ein Divisionsgeneral, kein Feldherr, der Riesenschlachten schlägt. Kleine Anschauungen übertrug er auf große Dinge, afrikanische Erfahrungen auf europäische Verhältnisse. Zu verlangen war von ihm die Einsicht, daß mit dem ‚in die Maas werfen’ des I. bairischen Corps ein Entkommen auf Montmedy auch noch nicht annähernd gesichert war, zu verlangen war die Einsicht, daß hinter und neben den Baiern andere und immer wieder andere standen, die, in Front und Flanke zufassend, von seinen Durchbruchskolonnen nicht viel übrig gelassen haben würden. Aber von diesen Erwägungen scheint ihm bis zu dem Momente, wo er die Dinge leibhaftig sah, auch nicht eine gekommen zu sein. Er tappte hinein, guten Glaubens, daß er ein Auserwählter sei und mußte sich 12 Stunden später davon überzeugen, daß er nur auserwählt worden sei, eine ungeheure Niederlage zu unterzeichnen. Mit gutem Willen und Feuereifer werden keine modernen Schlachten gewonnen. Sein Fehler war gewesen, daß er geglaubt hatte, mit Gaben zweiten Ranges da auskommen zu können, wo Gaben ersten Ranges nöthig waren. Er war energisch und decidirt; zwei militärische Tugenden, wie nicht bestritten werden soll. Aber ununterstützt durch entsprechende Erkenntniß, können sie verhängnißvoll werden. An Warnungen hatte es nicht gefehlt. Um 9 Uhr ritt Ducrot an ihn heran: ‚Ich komme nicht, General, um Ihnen das Commando zu bestreiten; … aber lassen Sie mich Ihnen bemerklich machen, daß ich mich seit fast anderthalb Monaten den Preußen gegenüber befinde, daß ich ihre Operationsart besser kenne, daß ich die Situation und das Terrain studirt habe und daß es mir nach Allem unzweifelhaft ist, daß der Feind Miene macht, uns einzuschließen.’ So Ducrot. Jeder empfand ein Gleiches, nur Wimpffen nicht.- So brach es denn herein.- Tapfer, patriotisch und ehrenhaft, und im Unglück sogar würdevoll und edel geartet, ist General Wimpffen nicht frei zu sprechen von dem Vorwurf, dies Unglück selbst zum größeren Theil herbeigeführt zu haben. Ein überraschender Mangel an Einsicht und ein eigensinniges Verharren im Irrthum, die beide seine Haltung am Tage von Sedan charakterisiren, haben die Katastrophe verschuldet oder doch wenigstens erst perfekt gemacht.“
Ein verständlicherweise milderes Urteil trifft vier Jahrzehnte nach dem unglücklichen Geschehen MAX FREIHERR VON WIMPFFEN (1863 – 1917), der Sohn des oben bereits mehrfach erwähnten Vetters des Sedangenerals WILHELM VON WIMPFEN, der in einem in der „Wimpfener Zeitung“ veröffentlichten Brief an die Redaktion aus Wien vom 18. September 1911 u. a. Folgendes schreibt:
„Obwohl in Frankreich geboren und mit Leib und Seele Franzose hatte Felix Wimpffen seine deutsche Abstammung nicht vergessen. Er gehörte zu jener kleinen Gruppe französischer Patrioten, die von freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen die gedeihlichsten Rückwirkungen auf die Entwicklung beider Völker erhoffte. Als gebildeter und tüchtiger Offizier kannte er die Kraft der deutschen Wehrmacht, wußte, daß die Franzosen militärisch den Siegern von Königgrätz nicht gewachsen waren, und sah den schlimmen Ausgang des Krieges voraus. Darin eben liegt das Tragische seines Schicksals, daß er, der Gegner dieses Krieges, im letzten Akte des Sedandramas zu einer Zeit, da die französische Armee rings umstellt und die Entscheidung bereits gefallen war, die führende Rolle übernehmen mußte. Allerdings wäre es klüger gewesen, die Vollmacht, die ihm den Oberbefehl nach Mac-Mahon übertrug, nicht geltend zu machen; ehrenvoller aber war es – wie er es tat – die Klugheit, d. h. die Rücksicht auf die eigenen Person in der verzweifelten Lage beiseite zu setzen und den Versuch einer Rettung mit der Waffe zu wagen. Als Wimpfen das Kommando übernahm, bot ein Durchbruch nach Paris dieselben Schwierigkeiten wie ein Durchbruch nach Metz. Der Durchbruch nach Metz war die dem General von der Pariser Regierung gesetzte Aufgabe und ein Vormarsch daher dem französischen Temperament mit seinem Elan gelegener als ein Rückzug nach Paris. Deshalb entschied sich Wimpffen für den Durchbruch nach Metz. Glückliche Zufälle hätten vielleicht sein Unternehmen zu einem teilweisen Erfolg führen können, die Disziplinlosigkeit höherer Offiziere ließ es aber nicht einmal zu einem durchgreifenden Versuche kommen. – General von Wimpffen hat seine Pflicht erfüllt, das war auch Moltkes Urteil. Moltke, der mit der Familie Wimpffen verwandt war, hatte mit seinem Gegner besonderes Mitgefühl.“
Max von Wimpffen stellt sich also eindeutig auf die Seite seines Großvetters und somit gegen die konträre Einschätzung dessen Hauptgegners Ducrot.
Bei allem Fehler Wimpffens, sich auf den Durchbruch im Südwesten Richtung Carignan zu versteifen, ist denn doch Folgendes zu seiner teilweisen Entlastung zu sagen: Der Kardinalfehler, der die Einkreisung und Gefangennahme der Armee von Chalons bei und in Sedan provoziert hatte, war zuvor von Marschall Mac-Mahon begangen worden. Dieser hatte den dort versammelten Truppen am Nachmittag des 31. August Halt geboten mit dem Ziel, diese durch ein oder zwei Tage der Rast sich erholen und reorganisieren zu lassen, anstatt diesen den Weitermarsch in Richtung Mézières nach Nordwesten zu befehlen. Hinzu kommt, dass der als „Sedangeneral“ abschätzig in die Geschichte eingegangene EMMANUEL FÉLIX DE WIMPFFEN große kluge politische Weitsicht dadurch bewiesen hat, indem er bei den nächtlichen Kapituationsverhandlungen zu Donchery seinen beiden deutschen Widersachern OTTO VON BISMARCK und HELMUTH VON MOLTKE die schlimmen Folgen einer Annexion von Elsass-Lothringen in Gestalt der Erzeugung neuer Feindschaft und eines neuen Krieges zum Zwecke der Rückgewinnung desselben durch Frankreich eindringlich vor Augen zu führen gesucht hat. „Nie davon reden, immer daran denken!“ hieß es fortab in Frankreich, bis dann 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach und der „Stachel im Fleisch“ Elsass-Lothringen und der Hass- und die Rachegefühle der französischen Volksseele sich Bahn brachen und nach seinem für Frankreich siegreichen Ende im Versailler Vertrag sich Befriedigung verschafften.
h. Wie Emmanuel Félix de Wimpffen in den Jahren seines Ruhestandes in mehreren militärischen Schriften seiner Nation die von ihm nach der Niederlage dringendst für notwendig befundene Armeereform im Sinne der Schaffung optimaler Waffen- und Wehrstärke vergeblich vor Augen zu führen sucht.
Emmanuel Félix de Wimpffen wird im April 1872 aus seiner Militärtätigkeit als Divisionsgeneral mit einer Pension von 9.000 Francs verabschiedet und zieht sich nach Mustapha bei Algier zurück. Als Grand-Officier de la Légion d’honneur steht ihm jährlich noch der zusätzliche Genuss von 2.000 Francs zu. Über die schon genannten mit der Schlacht bei Sedan zusammenhängenden Veröffentlichungen hinaus erscheinen von ihm in der Zeit des Ruhestandes noch die folgenden weiteren militärischen Schriftwerke, die alle auf die ihm nach dem verlorenen Krieg notwendig erscheinenden Armeereformen gerichtet sind:
- La situation de la France et les réformes nécessaires, Paris 1873 (108 S.)
- La Nation armée par le Général de Division de Wimpffen, Paris 1876 (273 S.)
- L’État-major, son rôle dans l’armée, Paris 1879
Die zweitgenannte Schrift wird einige Jahre nach ihrem Erscheinen Hauptgegenstand der nachfolgend gezeigten Farb- Karikatur des „Sedangenerals“, an die des Vergleichs dessen Gesichts wegen eine in der Bibliothéque nationale de France verwahrte Fotografie sowie eine zeichnerische Darstellung desselben angeschlossen wird:
- Abb. A 34: Le Général de Wimpffen, Zeichnung von André Gill auf der Titelseite der literarisch-satirischen Pariser Zeitschrift „Les Hommes d’aujourd’hui“ (Die Menschen von heute) Nr. 40 (des Jahres 1879), die erstrangig auf die von diesem 1876 veröffentlichte Schrift „La Nation armée par le Général de Division de Wimpffen“ abhebt und eine Beischrift des Autors aufweist (veröffentlicht im Internet durch das „Centre de recherche et d’ Histoire de XIXe siècle“).
- Abb. A 35: Dreiviertel-Foto von Emmanuel Félix de Wimpffen in ordensgeschmückter und degenbewehrter Gala-Uniform in etwa der ersten Hälfte der 1870er Jahre, verwahrt in der Bibliothèque nationale de France.
- Abb. A 36: Zeichnerische Darstellung des Emmanuel de Wimpffen, betitelt mit „General de Wimpffen“ in einer englischsprachigen Darstellung der Schlacht von Sedan.
Die Karikatur stellt dessen höchst realistisch wiedergegebenes bebartetes Haupt in durchaus wirklichkeitsentsprechender Manier groß heraus, während der mit einem schwarzen Frack und einer roten Hose bekleidete Körper sich nach unten wachsend minimiert, womit dem Dargestellten ein Anstrich der Respektlosigkeit bis Lächerlichkeit gegeben ist. Die überkreuzten Hände halten in der Rechten einen fast körperhohen Säbel (Anspielung auf seinen Status des Militär) und in der Linken einen ebensolchen Federkiel (Anspielung auf seine eifrige militärschriftstellerische Tätigkeit). Durch die sich ergebende Überkreuzung der groß zur Schau gestellten beiden Symbolgegenstände Säbel und Federkiel will der Zeichner wohl verschlüsselt andeuten, dass der Abgebildete als (über)eifrig schreibender Militär für seine nach dem Abzug der deutschen Besatzung des Jahres 1873 sich mit der notwendigen Neuorientierung und Neuordnung schwer tuenden Nation durch seine Intentionen insofern „zum Kreuz“ werden könnte, als dessen Appell zur Verstärkung der Waffenrüstung drohten, für Frankreich Ungemach bis Unglück heraufzubeschwören.-
Die Beischrift der heutigen Herausgeber lautet bezeichnenderweise:
„Général du Second Empire avec ses victoires et ses défaites, augmentées d’une œvre d’essayiste (La Nation armée, 1876). –
Zu Deutsch: „General des Zweiten Kaiserreiches mit seinen Siegen und seinen Niederlagen, vergrößert durch ein Schriftwerk (Die waffengerüstete Nation, 1876).“
In der linken Mittelzone des Blattes ist die folgende aus der Hand des Abgebildeten stammende – sein Schriftwerk kommentierende – Anmerkung zu finden:
„Vivre au milieu des Soldats et aller à la bataille a été ma plus grande passion. Je n’ai pris la plume que pour propager mon expérience acquise par une laborieuse carrière et consacrée par de nombreux combats. Mon but est de stimuler nos organisateurs militairs, afin qu’ils fassent de la France une nation armée. Le gal (Abkürzung für Général) de Wimpffen.“ –
Frei übersetzt: „Leben in der Mitte der Soldaten und in die Schlacht gehen, das ist meine größte Leidenschaft gewesen. Ich habe die Feder nicht ergriffen, um meine durch eine mühevolle Karriere erworbenen und durch zahlreiche Gefechte geweckten Erfahrungen hervorzukehren. Mein Zweck ist es, unsere Militär-Organisateure anzuregen, aus Frankreich eine waffengerüstete Nation zu machen. General de Wimpffen.“
Man sieht, dass der auf diese herabsetzende Weise der Öffentlichkeit präsentierte betagte General dem Spott nicht besser als mit der in heiligem Ernst ausgebreiteten Bekräftigung der seiner Schrift zugrundegelegten Intention der Steigerung der Wehrhaftigkeit zu begegnen versteht.
Aus der Sicht des knapp dreieinhalb Jahrzehnte später ausgebrochenen Ersten Weltkriegs erscheint sein Appell der Erziehung seiner Nation zur Wehrhaftigkeit insofern gerechtfertigt, als es Frankreichs Soldaten damals gelingt, den Angriff der über Belgien in Frankreich einbrechenden und an einen raschen Sieg glaubenden deutschen Armeen dauerhaft aufzuhalten.
Er stirbt, ohne Kinder zu hinterlassen und nachdem seine Gattin ihm bereits 5 ½ Jahre vorausgegangen ist, in seinem Wohnsitz in Paris, Boulevard Poisonnière Nr. 28, am 25. Februar 1884 in Paris an einem Schlaganfall im Alter von 72 ½ Jahren und wird dort auf dem Friedhof Père Lachaise (division 47, angle chemin du Tertre) begraben. Die
- Abb. 37: Die Büste des steinernen Grabmonuments von General Emmanuel Félix de Wimpffen
zeigt ihn, seinem Wirken und Wesen entsprechend, uniformbewehrt und ordendekoriert. Aus der Ordenspracht sticht wieder der doppelte Ordensstern des Grand Officier de la Légion d’honneur am Hals am Band und auf der Brust ins Auge. Hinter der auf einer kranzgeschmückten hohen Rundsäule stehenden Büste erhebt sich ein schmuckloser hoher Grabstein, auf dessen oberem Halbrund in großen Lettern die Inschrift „AFRIQUE – ARMÈE – ITALIE” eingelassen ist. Damit sind die Plätze seines ruhmreichen Tuns herausgestellt, nicht jedoch der Ort seiner Niederlage Sedan, der ihm besonders große, wenngleich traurige, Berühmtheit eingebracht hat. Aus seinen nachgelassenen Papieren gab Emile Corra heraus:
– „La bataille de Sedan, les véritables coupables: Histoire complète et militaire d’aprés des matériaux inédits, élaborés et coordonnés“; Paris Paul Ollendorff, 1887; in Deutsch Augsburg 1889.
Und von den nachgelassenen Papieren gab H. Galli diejenigen heraus, die sich auf seinen erfolgbringenden Einsatz im Krim- und Italienkrieg beziehen, unter dem Titel
– „Notes et correspondences de campagne: Crimée – Italie”, Paris 1892.
Natürlich konnte die da und dort sporadisch in die vorliegenden Betrachtungen einbezogene jüngste 31-seitige Untersuchung des Jahres 2012 von Jean-Pierre Allart
– „Le génerál de Wimpffen (1811 – 1884). L’autre homme des Sedan”, die Dr. Hans H. von Wimpffen wohl mit Recht als „die beste Arbeit” über diesen bezeichnet, hier nicht mehr als nur bruchstückhaft eingearbeitet werden.
Wenn nunmehr der Abschluss der Schilderung des Lebens des sog. Sedangenerals sich der Zitierung deren letzten Abschnittes bedient, so um mit des vorgenannten Autors dort ausgedrückter Wertung einherzugehen, die bereits im Titelschluss („L’autre homme de Sedan”) anklingt:
„Wenn, auch heute noch, General Wimpffen als der Mann gilt, der 1870 die Kapitulation von Sedan unterzeichnet hat, so darf man sein Dasein nicht allein auf den Tag des 1. September einschränken. Denn dieser war einer jener Militairs, die zur Kolonisation Algeriens beitrugen und der auf den europäischen Schlachtfeldern der Krim und Italiens Ruhm erwarb. Seine republikanischen Empfindungen, die jene eines aufrichtigen Menschen sind, haben ihm manche Entäuschung bereitet, und wenn er auch ein Mensch seiner Zeit bleibt, so hat er es verdient, besser bekannt zu sein.”
- Die siegreiche Weiterführung des Kriegs mündet in die im Spiegelsaal von Versailles ausgerufene Gründung des Deutschen Kaiserreiches unter der Führung Preußens, die in Wimpfen wie überall in diesem im Frühjahr 1871 erstmalig die Wahl zum Reichstag bringt.
Mit der gewonnenen Schlacht bei Sedan und der Gefangennahme des französischen Kaisers Napoleon III. sollte der Krieg noch lange nicht beendet sein. Zwar zog diese die Abdankung und den Sturz des nur noch auf schwachen Füßen gestandenen französischen Kaisertums und nach Unruhen in Paris am 4. September 1870 die Ausrufung der sog. Dritten Republik mit anschließender Flucht der Kaiser-Regentin Eugénie nach London nach sich. Doch führte die nun eingesetzte provisorische französische Regierung unter dem Staatspräsidenten Adolphe Thiers die Verteidigung des Landes gegen die auf die Hauptstadt Paris vorrückenden und diese einschließenden deutschen Truppen fort. Der Innenminister Léon Gambetta, dem es gelungen war, aus dem belagerten Paris mit dem Ballon zu entkommen, rief von Tours aus zur „Levée en masse“ (Mobilmachung aller Männer) auf. Und in den bereits besetzten Gebieten führten – Wirkung des aufgelebten Patriotismus – die gefürchteten sog. Franctireurs (Freischärler) gegen die deutschen Verbände einen verlustreichen Kleinkrieg. So brauchte es noch vieler über den gesamten Rest des Jahres 1870 und den Januar des Jahres 1871 hinweg gegangener harter und von Rückschlägen nicht verschonter Kämpfe und Schlachten etwa um Amiens und Rouen in Nordwest- sowie Dijon und Belfort in Nordostfrankreich und an unzähligen anderen Plätzen und Landschaften Frnkreichs, bis schließlich die Kampfhandlungen um das belagerte Paris herum eingestellt und Ende Januar 1871 ein allgemeiner Waffenstillstand mit der Regierungsdelegation unter Gambetta vereinbart werden konnte. Die eingeschlossene Festung Belfort kapituliert aber erst Mitte Februar und am 01. März 1871, an dem schließlich die westlichen Stadtteile von Paris für nur diesen einen Tag besetzt werden, kann die Ratifizierung des sog. Vorfriedens von Paris durch die Französische Nationalversammlung erfolgen.[50]
Wenngleich an diesen Kampfgeschehnissen immer wieder auch hessische Verbände und mit diesen auch Wimpfener, wie z. B. bei der Einschließung von Metz (Kapitulation nach mehreren gescheiterten Ausfallversuchen erst am 27. Oktober 1870) und in der Schlacht bei Orleans an der Loire (3. – 5. Dezember 1870), beteiligt waren, kam glücklicherweise keiner der aus Wimpfen stammenden Soldaten mehr zu Tode.
Die vorstehende chronologische Wiedergabe des Kriegsverlaufes sei hier ergänzt, um aus der Flut der während des Krieges von 1870/71 und vor allem nach diesem im immer wieder aufebbenden Siegestaumel auf Jahrzehnte hinaus und sogar bis in das erste Jahrzehnt des nachfolgenden 20. Jahrhunderts hinein erschienenen Kampfesdarstellungen sowie anderweitigen prägenden Geschehnissen dieses Krieges einige Beispiele zu zeigen. Dies geschieht, weil diese alle aus der Hand des bereits in meinen Abhandlungen „Die Geschichte der hessischen Exklave Wimpfen, Band 1 und Band 2″ mehrfach aufgeführten Königlich-württembergischen Offiziers sowie gleichzeitig Schlachten- sowie Landschaftsmalers und Darstellers von Stadt- und Burgperspektiven KARL ALBERT VON SCHOTT (1840 – 1911) stammen. Dieser findet sich bereits mehrfach erwähnt:
– In Band 1 (1802 – 1836) auf Seite 475 unter der Rubrik „Anmerkungen zur Hinführung“ in der Endnote Nr. 3; dort ist nicht allein vorausnehmend sein Lebensgang in Kurzform aufgezeigt, sondern auch dessen prachtvolle Darstellung des Jahres 1896 „Wimpfen – Cornelia nach einem Stich vom Jahre 1647 gez. von K. Schott“, vergleichend mit dem gleichnamigen Stich von ca. 1730 nach Merians Art des Johann Christian Leopold in Augsburg, beschrieben und Schotts Herleitung seiner Darstellung von einem Stich des Jahres 1647 sowie die daraus zu folgernde Wiedergabe des Zustandes des vorgenannten Jahres kritisch hinterfragt.
– In Band 2 (1836 – 1870) ist zunächst auf der Seite 514 die Abb. G 17b „Wimpfen am Neckar mit Wimpfen am Berg und im Tal … von Karl (von) Schott von vor 1868/69“ aufgeführt und diese danach auf Seite 563 gezeigt und beschrieben sowie auch dessen Lebensgang bereits ausführlich geschildert. Dabei ist herausgestellt, dass der Schöpfer dieser Wimpfen am Neckar geltenden Arbeiten lebenslang diesem Städtchen zugeneigt geblieben ist, weil seine Mutter MARIA ANTONIA SCHOTT eine der Töchter des in Wimpfen von 1821 – 1832 tätig gewesenen streng katholischen Landrichters FRANZ JOSEF WEYLAND gewesen ist. Außerdem ist dort auf Seite 619 eine weitere Wimpfen geltende Arbeit desselben, nämlich Abb. H 2c „Die beiden Wimpfen, zusammen von zwei wechselnden Standpunkten … von höchstwahrscheinlich Karl (von) Schott (vor 1868/69)“ aufgeführt und auf Seite 619 gezeigt.
Den Angaben der alten wie neueren Kunst- und Künstler-Kompendien folgend, findet in der oben angeführten Lebensbeschreibung sich von mir Stuttgart als Karl Albert von Schotts Geburts- wie auch Sterbeort bezeichnet. Doch bin ich vor einigen Jahren beim Studium der Geburtsverzeichnisse der Katholischen Kirchengemeinde Bad Wimpfen überraschenderweise darauf gestoßen, dass dieser in Wimpfen im Hause seiner Großmutter zur Welt gekommen ist. Genaueres darüber ist später in Kapitel „L. Fortentwicklung im Badeortwesen“ im Rahmen seiner dort in der Abb. L 11 gezeigten und abermals kritisch zu hinterfragenden historischen Darstellung des Jahres 1896 „Wimpffen – Cornelia“ zu erfahren.
Wie in der oben erwähnten (in Band 2, Seite 563, zu findenden) genauen Lebensbeschreibung ausgesagt ist, hat Schott die Offizierslaufbahn im Königlich-württembergischen Militärdienst eingeschlagen und war Kombattant sowohl des Krieges von 1866 als auch des Krieges von 1870/71. Doch huldigte er daneben immerfort seinem Steckenpferd, der Zeichen- und Malkunst, was ihn schließlich 1888 im Alter von 48 Jahren veranlasste, sich vom Offiziersberuf und Dienst als Oberstleutnant und Batailllonskommandeur im Infanterieregiment Nr. 124 beurlauben zu lassen und sich ganz der Ausübung seiner Kunst und der Vervollkommnung derselben durch die Wiederaufnahme des Studiums in München in der Schule des großen Tiermalers Anton Braith und des berühmten Militär- und Genremalers Louis Braun zu widmen. Zu erfahren ist in dieser Lebensbeschreibung auch, dass er die im Krieg von 1870/71 vor Ort gefertigten Skizzen als Grundlage für die in späteren Jahrzehnten gefertigten Ölgemälde und Aquarelle verwendet und diese zu der folgenden Buchveröffentlichung veranlasst hat:
– Karl Schott, Der Anteil der Württemberger am Feldzuge von 187071. Mit 63 Abbildungen nach Original-Aquarellen des Verfassers; Union Deutsche Verlagsgesellschaft Stuttgart, o. J. (um ca. 1908).
Siehe dazu
- Abb. 38a: Die vordere Umschlagseite der vorstehend aufgeführten Veröffentlichung von, wie es heißt, „Der Anteil der Württemberger am Feldzuge 1870 – 71. Von K. Schott. K. W. Oberstleutnant a. D. Aus der langen Reihe dieser den Kampfesplätzen und -ereignissen der Truppen des Königreiches Württemberg geltenden Darstellungen, deren Originalarbeiten in Öl und Aquarell auch im Handel erschienen sind, konnten sechs ermittelt werden, die mit Rücksicht auf den engen Konnex ihres Schöpfers mit Wimpfen nachfolgend alle gezeigt werden sollen. Deren erstes Paar spielt zeitlich noch ungefähr drei Wochen vor der Schlacht bei Sedan, als nach der gewonnenen höchst verlustreichen Schlacht bei Wörth den deutschen Truppen auf dem Weiterweg nach Westen durch die Nordvogesen die dortigen Bergfestungen starken Widerstand leisten und sich dadurch teilweise in ihrem Rücken Gefahrenherde bilden. Während die kleine Festung Pfalzburg sich ganze vier Monate gegen die Belagerer behauptet und die bei Wörth gelegene Festung Bitsch sogar bis zum Waffenstillstand gegen die bayrischen Belagerer durchhält, wird die Gegenwehr von Lützelstein und Lichtenberg rasch gebrochen. Siehe hierzu
Abb. 38b: Karl Albert von Schott (1840 – 1911): Die Berennung der kleinen Bergfestung Lichtenberg durch württembergische Jäger.
Außer dieser Buchveröffentlichung ließ sich noch die folgende von Schott stammende weitere auf den 1870/1er-Krieg bezogene solche ermitteln:
– Karl Schott, Vor Paris 1870. Bilder von der Ostfront. Champigny, Villiers, Brie, Noisy etc. An Ort und Stelle gezeichnet. Stuttgart: Frank, 1895.
Unter diesen allen galt „Aus der Schlacht von Villiers“ als sein bedeutendstes Werk, das in die Stuttgarter Gemäldegalerie aufgenommen wurde.
Nicht übersehen werden darf auch eine nach seinem Tod noch im Sterbejahr erstellte Dokumentation:
– Anonym, Nachlass Oberstleutnant Karl von Schott Schlachtenmaler Stuttgart. Gemälde, Aquarelle, Handzeichnungen und Altertümer. Auktionskatalog mit 24 Seiten und 8 Tafeln. Stuttgart: Felix Fleischhauer, 1911.
- Abb. 38c: Karl Albert von Schott (1840 – 1911): Der Tod des württembergischen Oberleutnants Staiger bei der nunmehr in Brand geschossenen kleinen Bergfestung Lichtenberg.
Deren Besatzung gibt nach der zweitägigen Beschießung mit Inbrandsetzung am 10. August 1870 ihren Widerstand auf.
Und nun seien die folgenden vier weiteren auf den 1870er-Krieg bezogenen Darstellungen des Karl Albert von Schott gezeigt:
- Abb. A 38d: Karl Albert von Schott (1840 – 1911), Die Schlacht von Sedan, Ölgemälde von 1895; Bemaßung: 77 cm : 126 cm.
Leider war nicht zu ermitteln, um welche gerade in Vollendung der Eroberung stehende Anhöhe mit schlossartigem Gebäude (vielleicht Bellevue?) sich diese auf die Schlacht bei Sedan bezogene Darstellung sowie die ins Bild gesetzten Personen (so die auf einem Schimmel auf die Balustrade des Schlosses zureitende hohe Persönlichkeit) es sich handelt.
- Abb. A 38e: Karl Albert von Schott (1840 – 1911), Württembergische Artillerie im Kampf um Champigny, Ölgemälde von 1901.
Auf der vorstehenden weiteren Darstellung und auf den nachfolgenden beiden solchen sind Ereignisse aus der vom 30. November bis 4. Dezember 1870 stattgefundenen beidseitig verlustreichen Schlacht bei Villiers-Champigny sur Marne gezeigt. Diese kam durch den verzweifelten Versuch des Oberbefehlshabers von Paris GENERAL TROCHY zustande, den seit knapp zweieinhalb Monaten geschlossenen Belagerungsring um die französische Hauptstadt Paris durch einen Ausfallversuch in Richtung Südwest hin zur s-förmigen Doppelschleife der gerade Hochwasser führenden Marne (mit den jenseitigen Orten Villiers am Anfang und Champigny in der Mitte der Schleife sowie der sich dahinter erstreckenden Hochebene) aufzusprengen. Dadurch sollte die in diesem Raum einkommende einzige und damit zur Versorgung der deutschen Belagerungstruppen mit Nachschub an Verpflegung, Waffen und Munition unabdingbar notwendige Eisenbahnlinie gekappt und die Verbindung mit der im Hinterraum noch vorhandenen Loire-Armee hergestellt werden.
Am 30. November gelingt es den Franzosen, mit mächtiger Unterstützung ihrer Artillerie, wozu auch die der anliegenden Forts gehörte, an mehreren Stellen die Marneschleife zu überschreiten und die sächsischen Vorposten aus den jenseitigen Orten Champigny und Bry an der Marne zu vertreiben. Und nun versuchen sie, was in der obigen Darstellung wiedergegeben ist, die von der württembergischen Division besetzte Hochebene von Villiers einzunehmen.
Gezeigt ist, wie eine dort über der sichtbar werdenden Maasschleife versammelte württembergische Artillerie-Einheit verheerende Treffer der von GENERAL DUCROT geführte französischen Artillerie hinnehmen muss. Im rechten Mittelgrund ist der die obere der beiden Maasschlingen begrenzede Prallhang zu erkennen, im mittleren und rechten Hintergrund sind die langgezogene Artillerie-Rauchfahnen von sich gebenden französischen Forts Nogent und Rosny angedeutet.
Das nachfolgend gezeigte Gemälde zeigt wie die württembergischen Truppen, nachdem der Durchbruch, wenngleich mit schweren Einbußen an Menschen und Gerät, abgewiesen ist, sich anschicken, am 2. Dezember 1870 Champigny sur Marne im Kampf Mann gegen Mann zurückzuerobern. Links und mittig sind die im Vordringen befindlichen Württemberger, rechts vorne in Massierung die in der begonnen Winterzeit mit bis zu 14 Grad Celsius gemessener Kälte mit Mänteln bekleideten französischen Linieninfanterie-Soldaten versammelt, erkennbar an ihren rot herausleuchtenden Käppis und an den unter den aufgeschlagenen Mantelsäumen hervorschauenden roten Pluderhosen.
- Abb. A 38f: Karl Albert von Schott (1840 – 1911), Kampf um Champigny am 2. Dezember 1870; Ölgemälde, 1895,[51]
Unterstützt von preußischen Bataillonen, gelingt es ihnen, an diesem Tag zunächst die Hälfte von Champigny zurückzuerobern, und nach ihrem weiteren Angriff des Tages in Richtung auf das Plateau von Villiers begannen sie in der Nacht des Folgetages den Ort zu räumen und den als „Grande sortie“ (großen Durchbruch) begonnenen, aber als „Grand desastre“ (große Katastrophe) endende Schlacht von Villiers und Champigny aufzugeben. Die Verluste auch der deutschen Seite waren so groß, dass der Kämpfe von Villiers und Champigny im ganzen Königreiche Württemberg noch bis zum Ende des Kaiserreiches ganz besonders gedacht wurde.
Somit wundert es nicht, dass Albert von Schott nicht nur das verlustreiche schlimme Schlachtengeschehen darstellt, sondern auch, wie abschließend gezeigt, das am ausgehenden Folgetage vollzogene Begräbnis eines Gefallenen festhält:
- Abb. A 38g: „Am Abend des 3. Dezember“. Gezeichnet von Premierlieutenant Schott, fotografiert von Martin Rommel, Stuttgart.
Bei der letztgezeigten Darstellung geht es also um eine Zeichnung von Karl von Albert Schott, die vom vorgenannten Stuttgarter Martin Rommel in eine Fotografie umgesetzt worden ist und sich, wie es heißt, auf den Abend des 3. Dezember 1871 bezieht:
Die Gruppe zusammengerstellter Gewehre und der am Boden liegende Säbel besagt, dass die Waffen jetzt schweigen; im Hintergrund fährt ein von Pferden gezogener Sanitätswagen weg, in dem man sich in ein Lazarett transportierte verwundete Soldaten denken kann. Im Verein mit der zwischen den vier einen Kameraden in die Erde Frankreichs bringenden Soldatengestalten lugt, die Aussage der Ruhe und (auch des auch himmlischen) Friedens verstärkend, ein Kirchlein hervor.
Aus unserer heutigen Sicht: Zu schön, um wahr zu sein; denn die Wirklichkeit war ein ganz andere. Und das gilt auch für alle die vorstehend gezeigten und Jahrzehnte nach dem grausigen Geschehen gefertigten und von den Zeitgenossen in der Regel sogar vielbewunderten Schlachtendarstellungen! Die ganze Wirklichkeit und grausige Wahrheit in ihrer Endwirkung zeigen diese weder mit der Darbringung einer Todesszene, noch mit der Inbrandsetzung einer Bergfestung oder des Einschlagens todbringender feindlicher Artillerie-Granaten bei Mann und Pferd oder einer Nahkampf-Massenszene in einem in Ruinen stehenden Ortes, schließlich auch nicht mit dem Zugrabebringen eines gefallenen Kameraden.
Die ganze Wirklichkeit der zerfetzten Leiber, der abgerissenen oder verstümmelten Gliedmaßen, die qualvollen Schmerzen und Schreie der Verwundeten, die oft infolge des völlig ungenügenden Sanitätswesens wie der Kampfsituation unversorgt auf der Walstatt liegen blieben und vergeblich sich durch ihr Rufen nach Hilfe bemerkbar zu machen suchten, erscheint hier nicht. Und wer unter den Verwundeten das Glück hatte, in einem Lazarett versorgt und von den überforderten Ärzten operiert zu werden, der musste selbst eine Amputation in der Regel ohne Narkose über sich ergehen lassen; und schmerzstillende Medikamente wie Morphiumpulver oder Morphiuminjektionen oder ersatzweise Heroin waren rar und oft den Ärzten gar nicht zur Hand. Solches wie auch die entsetzlichen Ängste, quälenden Schmerzen, schrecklichen körperlichen Strapazen und oft totale Erschöpfung der Soldaten beider Seiten bleiben hier ausgeklammert und werden hier durch die Ergüsse einer die Wirklichkeit übertünchenden vaterländisch-scheinlyrischen Heldenkunst verdrängt.
Die Zahl der im beginnenden Zeitalter der Masssenmedien dem Schlachtengeschehen des Krieges von 1870/71 als sog. Schlachtenbummler folgenden und darüber in Wort oder Bild berichtenden deutschen wie auch ausländischen (so vor allem englischen und amerikanischen) Maler und Zeichner sowie auch Zeitungsberichterstatter und Literaten war überlang. Diese waren verständlicherweise von den Kämpfenden nicht gern gesehen! Der Umstand, dass Karl Albert von Schott aufgrund seiner Herkunft einerseits tiefgläubiger Katholik, andererseits jedoch Militär (damals Premierleutnant) gewesen ist, lässt spüren, dass dieser sich mit seinen Kampfesdarstellungen ganz auf der Linie der preußisch-protestantisch denkenden Christen bewegte, die Gott als den Ihren vereinnahmten und unermüdlich im Gebet Dank für die errungenen Siege gegen den Erbfeind Frankreich zollten. Wir haben bereits im Rahmen des im Vorkapitel A.1 dargestellten Geschehens auf den Schlachtfeldern des 1870/71er Krieges auf dem Hintergrund der hessischen Exklave Wimpfen Einiges von der heute nicht mehr nachvollziehbaren Verdrängung der Wirklichkeit, sprich der durch den Krieg verursachten sozialen Schädigungen, durch die Öffentlichkeit aller Ebenen erfahren, welche nicht nur über die in den Kampf bis Verletzung oder gar Tod geschickten Soldaten, sondern auch deren Frauen und Kinder sowie Mütter und Väter hereingebrochen und mit viel Schweigen übergangen oder als notwendige, gottgewollte Opfer für Kaiser und Vaterland gedeutet worden sind. Beim Anblick der an zweitletzter Stelle gezeigten Abb. A 38f, stellt sich bei mir, dem 1926 Geborenen, die Erinnerung ein, das im Wimpfen meiner Kindheit, also noch ein halbes Jahrhundert nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, beim Versteckspielen in den Straßen und Gassen ein bei den Kindern vielbeliebter und auch das Gefallen der Erwachsenen findender Abzählreim folgendermaßen lautete: „Ein Franzos’, mit der roten Hos’, mit der roten Kapp’ – und du bist ab!“. Als ob das Kriegführen ein Kinderspiel gewesen wäre; das war es nicht nur nicht für die mit diesen roten Uniformteilen zu ihrem Nachteil ein hervorstechen des Ziel bietenden französischen, sondern auch für die deutschen Soldaten, wenn sie etwa bereits aus weitester Entfernung von den in der Reichweite überlegenen Chassepot-Gewehren getroffen worden oder in den Kugelregen der Schrapnells wie auch den glühenden Splittern der in der Luft explodierenden Geschosse der gegnerischen Artillerie geraten sind. Mit Herzlosigkeit gegenüber Feind wie Freund wurden die durch das Kriegführen geschaffene unsägliche Jämmernis der Schmerzen, Entstellungen und des Todes mitsamt dem daraus folgenden unsäglichen Leid und der Lebensnot der Angehörigen, vor allem der betroffenen Mütter und Kinder, überspielt.
Der Krieg ist noch voll im Gange, als am 15. bzw. 23. und 25. November 1870 bereits unter den begeisternden Erfolgen der vereinigten deutschen Armeen vom Kanzler des nach dem Kriege von 1866 zustande gekommenen Norddeutschen Bundes Otto von Bismarck der erste Schritt zu der von diesem mit Vehemenz angestrebten Vereinigung aller deutschen Staaten getan wird: die Vereinbarung zwischen dem Norddeutschen Bund und den Großherzogtümern Baden und Hessen, letzteres jetzt in seiner Gesamtheit mit den bislang ausgeschlossen gewesenen Provinzen südlich des Mains Rheinhessen und Starkenburg, wozu auch die Exklave Wimpfen gehört, schließlich auch mit den zögerlichen Königreichen Bayern und Württemberg über die Gründung des Deutschen Bundes und die Annahme der Bundesverfassung. Bereits am 1. Januar 1871 ist mit dem Inkrafttreten der Reichsverfassung das Deutsche Reich offiziell begründet. Dieser Vorgang wird gekrönt durch die in das Prachtschloss Ludwigs XIV. Versailles im Südwesten von Paris gelegte großartig-feierliche Proklamation des Königs Wilhelm von Preußen zum Deutschen Kaiser, die am 18. Januar 1871 stattfindet und das französische Volk demütigt, die Deutschen aber in Jubelstimmung über den Vollzug der ersehnten Einigung und deren Sieg über Frankreich versetzt. Dieses Großereignis ist von dem bereits im Zusammenhang mit den nächtlichen Kapitulationsverhandlungen in Donchery bei Sedan vorgestellten Großen der vaterländischen Malkunst ANTON VON WERNER u. a. folgendermaßen dargestellt worden:
- Abb. A 39: Gerahmte Darstellung der Kaiserproklamation im Schloss von Versailles am 18. Januar 1871 nach einer Bildschöpfung des Anton von Werner (1843 – 1915) von 1880.[53]
Diese Darstellung hat, wie auch derartige ähnliche solche des Anton von Werner sowie anderer Künstler des Stiftes und des Pinsels, in viele der Hauswesen des nunmehrigen Deutschen Kaiserreiches als vaterländischer Bildschmuck Einzug gehalten. Es erfasst den Moment, da die Verlesung der Proklamation durch den etwas rechts am Ende des im Spiegelsaal errichteten mehrstufigen fahnengeschmückten hölzernen Podests postierten und die Pergamenturkunde in den Händen haltenden Graf Otto von Bismarck zu Ende gegangen ist und der linkerhand des die darüber die Mitte der Estrade einnehmenden Königs Wilhelm von Preußen stehende Großherzog Friedrich von Baden unter hocherhobener Rechten den Ruf „Seine Kaiserliche und Königliche Majestät, Kaiser Wilhelm, lebe hoch! Hoch! Hoch!“ ausbringt. In den dreifachen Hochruf stimmen alle unter Ziehen und Erheben der Säbel ein, und danach werden unter brausendem Jubel die Helme und Hüte hochgeworfen. Der Jubel pflanzt sich aus dem Spiegelsaal zu den vor dem Schloss, wo die schwarz-weiß-rote Fahne des Norddeutschen Bundes und jetzt auch des „Deutschen Reiches“ aufgezogen wird, auf die dort stehenden Soldaten und weiter bis nach Versailles fort.
Es folgt anderthalb Monate später, am 1. März 1871, die Ratifikation des sog. Vorfriedens von Paris durch die Französische Nationalversammlung und am 10. Mai 1871 schließlich der Friede zu Frankfurt, der die Festlegungen des Präliminarfriedens von Versailles und damit die Abtretung des Elsass (außer Belfort) und Lothringen sowie die stufenweise Zahlung einer Kriegsentschädigung von fünf Milliarden Francs (in Gold) bestätigt.
Was sich im Zuge der Begründung des Deutschen Kaiserreiches „vor Ort“, d. h. in Wimpfen selbst, tut, das ist zunächst die bereits am 3. März 1871 durchgeführte Wahl zum Deutschen Reichstag. Nach dem Muster des Wahlgesetzes zum Deutschen Bund steht im neugegründeten Deutschen Reich, das einen 25 Staaten („Länder“) umfassenden Bundesstaat in der Staatsform einer Konstitutionellen Monarchie unter dem Deutschen Kaiser Wilhelm I. darstellt, jedem männlichen Einwohner ab dem 25. Lebensjahr (außer Militärangehörigen, Empfängern von Armenunterstützung und Menschen mit eingeschränkter Dispositionsfähigkeit oder aberkannten Ehrenrechten) das Recht der Beteiligung an der Wahl zum Reichstag des Deutschen Reiches als der Vertretung des Volkes zu. Anders als bislang und auch künftig bei den vom restriktiven Dreiklassenwahlrecht beeinflussten Wahlen zum hessischen Landtag sowie zum Gemeinderat, wird dieser – Zugeständnis des Erzkonservatinen Bismarck gegenüber den Liberalen mit dem Ziel, die revolutionären Krafte in Deutschland und deren demokratischen Grundsätze gleichsam von oben durch die Regierung in den Staat einzubauen – nach dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht gewählt. In Verbindung mit dem von den Ländern bestimmten Bundesrat steht dem Reichstag das Recht der Gesetzgebung und der Genehmigung des Reichshaushaltes zu, wenngleich dieser wenig Einfluss darauf hat, da der vom Kaiser ernannte Reichskanzler Otto von Bismarck diesem nicht verantwortlich ist.
Zur Vorbereitung dieser erstmaligen gesamtdeutschen Wahl werden im Reich 382 Reichstagswahlkreise mit einem ungefähr jeweils gleichgroßen Bevölkerungsanteil von je rund 100.000 gebildet, in denen je ein Reichstagsabgeordneter nach dem absoluten Mehrheitswahlrecht zu wählen ist. Gewählt ist also, wer 50 % der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen kann. Erreicht keiner der Kandidaten diesen Anteil, entscheidet eine Stichwahl zwischen den beiden bestplatzierten Kandidaten. Das Großherzogtum Hessen ist nach dem Muster der dort 1868 vorausgegangenen Wahlen zum Deutschen Zollparlament in 9 Wahlkreise eingeteilt. Der Exklavenkreis Wimpfen, bestehend aus den Teilorten Wimpfen am Berg, Wimpfen im Tal, Hohenstadt, Helmhof und Forsthaus sowie dem hessischen Teil von Kürnbach, gehört dem hessischen Reichsstagswahlkreis Nr. 7 an, der den Namen „Worms-Heppenheim-Wimpfen“ führt und aus den folgenden Kreisbereichen bzw. Gemeinden zusammengesetzt ist:
- den Gemarkungen der Städte und Gemeinden des Kreises Worms;
- 12 (südwärtigen) Gemarkungen des Kreises Bensheim: Bobstadt, Bürstadt, Boxheimer Hof, Groß-Hausen, Hofheim, Klein-Hausen, Lampertheim, Biedensand, Seehof, Wildbahn, Lorsch, Lorscher Wald;
- 15 (südwärtigen) Gemarkungen des Kreises Heppenheim: Darsberg, Erbach, Grein, Heppenheim, Hirschhorn, Kirschhausen, Langenthal, Neckar-Hausen, Neckar-Steinach, Ober-Hambach, Ober-Laudenbach, Sonderbach, Unter-Hambach, Viernheim, Wald-Erlenbach;
- dem Kreis Wimpfen.
Der Großherzogliche Kreisrat FRIEDRICH GRÄFF zu Heppenheim wird zum Wahlkommissär bestimmt. Der genannte Wahlkreis wird in sog. Wahlbezirke unterteilt. Der Kreis Wimpfen mit den o. g. Teilorten bildet einen einzigen Wahlbezirk mit Ausnahme von hessisch Kürnbach, das einen eigenen Wahlbezirk umfasst. BÜRGERMEISTER FRIEDRICH ERNST wird im Wimpfener Bezirk zum Wahlvorsteher, zu seinem Stellvertreter der BEIGEORDNETE FRIERICH KLENK bestimmt. Die Wahlen finden „auf dem Gemeindehause“ am 3. März 1871 von 10 Uhr vormittags bis 6 Uhr nachmittags statt. Es sind Wählerlisten nach einem vorgedruckten Schema zu erstellen und diese auf dem Gemeindehause zu jedermanns Einsicht vom 19. bis 26. Januar 1871 auszulegen sowie bis zum 10. Februar 1871 mit der Unterschriift des Bürgermeisters abzuschließen. Glücklicherweise ist diese Wählerliste und sind auch diejenigen bis zum Jahr 1887 erhalten geblieben. Diejenige der ersten Reichstagswahl soll hier in Gänze wiedergegeben werden, weil sie nicht nur Einblick in die Wahlbeteiligung (siehe in der zweitletzten Spalte „gew.“), sondern auch in die Namens-, Alters- und Berufsstrukturen der Zeit um den Beginn des Kaiserreiches bietet:
Unter Anrechnung der Einfügungen von Namen sowie der Auslassungen von Nummern sowie der Ausstreichung eines Namens beträgt die wirkliche Summe der Wahlberechtigten 607. Hinsichtlich der Wahlbeteiligung ergibt sich folgendes Bild:
Leider sind über diese Wahl zum Ersten Reichstags, was den Wahlbezirk Wimpfen betrifft, weitere direkte Fakten, so etwa solche, die auf einen vorangegangenen Wahlkampf der angetretenen Parteien hinweisen könnten, nicht mehr greifbar. Hauptkandidat und Gewinner der absoluten Mehrheit im Wahlkreis Worms-Heppenheim-Wimpfen mit 8.193 von insgesamt 13.477 abgegebenen Stimmen (60,9 %) war der Jurist und ehemalige Angehörige der I. Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen von 1851 bis 1866, damals Kreisrat in Worms sowie 1868 gewähltes Mitglied des Deutschen Zollparlaments* JOHANN PFANNEBECKER (1808 – 1882). Dieser gehörte der damals die Hauptstütze des Reichskanzlers Bismarck darstellenden Nationalliberalen Partei (NLP) an, die im Reichsgebiet mit 30,1 % die meisten Wählerstimmen erhielt und im Reichstag mit 119 Sitzen die meisten Abgeordneten vor der dem Kanzler und dem Preußentum gar nicht gewogenen (die Katholiken und den Katholizismus vertretenden) Zentrumspartei (ZP) mit 18,6% bzw. 60 Sitzen stellte. Der diesem „Zentrum“ angehörende wichtigste Mitkandidat war der katholische hessische Staatsrat und Opponent Bismarcks ARNOLD FREIHERR VON BIEGELEBEN, der seit 1868 Abgeordneter der Zweiten Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen war und dort den Wahlbezirk Heppenheim vertrat und dem nur 4.828 Stimmen, das sind 35,9 %, zufielen. Während die Wahlbeteiligung im Wahlkreis Worms-Heppenheim-Wimpfen in Höhe von 74 %, gemessen an der nur 50,7 % betragenen solchen im Gesamtgebiet des Deutschen Reiches, als ausnehmend hoch einzuschätzen ist, springt bei der Betrachtung der letzten Spalte der vorstehenden Übersicht „Anteil der abgegebenen Stimmen in %“ ins Auge, dass die Wahlbeteiligung im Wahlbezirk Wimpfen mit nur 48,76 % demgegenüber weit zurück lag und zudem innerhalb der Teilorte extrem differierte: In Wimpfen im Tal kamen zur Stimmabgabe nur 37,21 %, in Hohenstadt kam kein Einziger der 47 Wahlberechtigten, in Helmhof mit Forsthaus nur ein Einziger solcher. Allerdings lag die Gesamtgemeinde Wimpfen mit ihren knappen 49 % nur wenig hinter dem mageren Gesamtergebnis des Deutschen Reiches von nur 50,7 % zurück. Der Grund für das Zurückhinken von Wimpfen im Tal und erst recht von Hohenstadt und Helmhof liegt sicherlich hauptsächlich darin, dass es nur ein Wahllokal gab, das sich im Rathaus in Wimpfen am Berg befand. Somit hatten die Wahlberechtigten der Teilorte, wenn sie von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen wollten, weiteste Wege zurückzulegen. Dass allerdings auch bei dieser raschestens und unverhofft anberaumten ersten Reichstagswahl bei den Menschen darüber hinaus noch kein rechtes politisches Bewusstsein der Bedeutung dieser Wahl, der bereits am 21. März 1870 die Eröffnung des ersten (für 3 Jahre gewählten) Reichstages in der nunmehrigen Hauptstadt des Deutschen Kaiserreiches Berlin folgt, vorhanden ist, das zeigt der Vorausblick auf die nächste Reichstagswahl des Jahres 1874, die eine Wahlbeteiligung von sage und schreibe beinahe 85 Prozent erbringen wird! An späteren Stellen wird denn auch das Nötige über die im Reichstag vertretenen verschiedenen anderen Parteien und sowie ihre politischen Zielsetzungen gesagt werden.
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* In Ergänzung des Textes des mittleren Abschnitts von „Die Geschichte der hessische Exklave Wimpfen, Band 2 (1836 – 1870)“, S. 632, wo es heißt, dass sich örtliche Unterlagen über das Ergebnis der Wahl zum Deutschen Zollparlament des Jahres 1868 nicht hätten finden lassen, kann hier laut Thomas Klein, „Die Hessen als Reichstagswähler .. , Dritter Band: Großherzogtum/Volksstaat Hessen 1867-1933“, Seite 318, Folgendes festgestellt werden: Diese Wahl erbrachte in Wimpfen am Berg und im Tal sowie Helmhof und Hohenstadt folgendes Ergebnis: JOHANN PFANNEBECKER (Nationalliberale Partei) erhielt 102, Dr. jur. et med. hc. JAKOB FINGER (1825 – 1904) nur 50 Stimmen.
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Fehlendes Bewusstsein für die nunmehr für die Menschen angebrochene neue Zeit des Lebens in einem unter der Krone des DEUTSCHEN KAISERS und gleichzeitig KÖNIGS VON PREUßEN WILHELM I. stehenden vereinten neuen (zweiten) Deutschen Reich atmet auch die karg anmutende – allein auf den erlangten sieggekrönten Frieden gerichtete – Eintragung des PFARRERS WILHELM SCRIBA in die Chronik der Evangelischen Kirchengemeinde für das abgelaufene Jahre 1871:
„Friede sei mit Euch! Diesen Segenswunsch des Herrn dürfen wir als Überschrift diesem Jahre geben, da der langersehnte und blutig erfochtene, aber auch für unser Volk ehrenvolle und gesegnete Friede in diesem Jahre geschlossen wurde. Die kirchliche Friedensfeier fand, wie im ganzen deutschen Vaterlande, auch bei uns am 18. Juni statt. Zu den Nachwehen des Krieges gehörte auch die, daß vom April bis zum Spätsommer die Pockenkrankheit dahier herrschte und von etwa 50 Erkrankten 5 der Krankheit erlagen, welche aus dem Sterbe-Protokoll zu ersehen sind. Es wurde eine Revaccination (A. d. V.: Wiederimpfung) angeordnet und hat sich herausgestellt, daß von den Wiedergeimpften Niemand von der Krankheit ergriffen wurde. – Den 17. und 18. Mai traten Nachtfröste ein, wodurch die Aussichten auf Obst und Wein beinahe vernichtet wurden. Die Ernte gab sonst den Ertrag eines guten Mitteljahres. Die wenigen Trauben wurden am 23. – 25. Okt. gelesen.“
Überhaupt ist uns über örtliche Vorkommnisse, die mit dem Krieg von 1870/71 zusammenhängen, wenig erhalten, zumal von der seit Ende März 1869 in Wimpfen bestehenden wöchentlich dreimal erscheinenden Ortszeitung, dem „Wimpfener Bote“, aus den ersten drei Jahren nur wenige Nummern erhalten geblieben sind. Aus den Gemeinderatsprotokollen erfahren wir immerhin Folgendes:
– Mitte Oktober 1870, nachdem nach vielwöchiger Belagerung mit mehrmaliger Beschießung die Stadt und Feste Straßburg kapituliert hat, beschließt der Gemeinderat mit Rücksicht auf die gemeinsame Vergangenheit als ehemalige Reichsstadt des Schwäbischen Städtekreises zur Linderung des dort entstandenen großen Notstandes aus der Gemeindekasse 250 fl zu spenden.
– Im Laufe der zweiten Hälfte des Jahres 1870 sowie in den Jahren 1871 und 1872 wird einer Reihe von städtischen Bediensteten mit Rücksicht auf die im Gefolge des Krieges eingetretetene Teurung eine Besoldungszulage gewährt, im Sommer des letztgenannten Jahre auch allen Lehrern der vier Volksschulen.
– Im Februar 1871 wird dem Ludwig Dengel, der sich mit seiner Familie mehrere Jahre in Frankreich aufgehalten hat, durch den Krieg dort ausgewiesen worden und über Köln jetzt vermögens- und arbeitslos in seinen Heimatort zurückgekehrt ist, ein Vorschuss in Höhe von 20 fl gewährt.
– Anfang März wird beschlossen, dass jeder nach Frankreich ausgezogene Soldat 5 fl 15 kr Unterstützung von der Bürgermeisterei erhalten soll.
– Im ausgehenden April erhält (der jüdische Handelsmann) Lazarus Bär Vergütungen für geleistete Vorspanndienste (Kriegsfuhren) in Höhe von 7 fl pro Tag.
– Anfang Juli beschließt der Gemeinderat, dass „in Anbetracht des schweren Krieges und der tapferen Haltung unseres Militärs“ sämtliche hierher zurückgekehrten Soldaten zu einem Nachtessen eingeladen werden und weitere 5 fl erhalten. Den in Garnison Befindlichen soll das Geld zugeschickt werden.
– Ausgangs Juli soll die Gemeinde zum Eisenbahnbau 3.000 fl an die hessische Staatskasse beisteuern. Wegen des errichtet gewesenen Lazaretts und der geleisteten Vorspanndienste kann die Stadtkasse die Summe nicht aufbringen und so nimmt man zu diesem Zweck unüblicherweise bei Friedrich Klenk ein Kapital von 2.000 fl auf.
Nicht übersehen werden darf der Umstand, dass der Deutsch-Französische Krieg durch die Abwesenheit einer Vielzahl junger Männer im Jahre 1871 einen erheblichen Rückgang der Geburtenrate und somit statt des üblichen sog. Geburtenüberschusses einen Überhang der Sterberate gegenüber der Geburtenrate gebracht hat. Siehe hierzu die nachfolgende gezeigte Übersicht, die auf der Basis der Geburts- und Sterberegister der Evangelischen sowie Katholischen Kirchengemeinde erstellt worden ist:
Die letzten in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Kriege stehenden örtlichen Ereignisse bilden im Sommer 1873 der Rücktransport der in Frankreich bis zur Erfüllung der Kriegkostenzahlungen verbliebenen deutschen Truppenverbände. Diese bringen laut den Berichten im „Wimpfener Bote“ von Ende Juli bis Anfang August 1873 laufend den Bahnhof passierende Extrazüge mit bayrischen Soldaten, zunächst Infanterie mit Munitionswagen, dann einige hundert Mann Chevauxlegers mit Pferden und Bagagewagen und eine Sanitätskompanie mit Sanitäts- und Doktorwagen, schließlich wieder Infanterie nebst 24 Musikanten und mehreren Sanitäts- und Munitionswagen sowie 500 Mann am 5. August.
4. Die Reichsgründung weckt die – allerdings unrealisiert bleibende – Idee der Beseitigung des als verantwortlich für das Stagnieren der Weiterentwicklung Wimpfens empfundenen Enklavendaseins durch die Abtretung an Württemberg unter Zuerkennung der Eigenschaft einer Bezirksstadt.
Die Vorstellung der mit dem Deutsch-Französischen Krieg zusammenhängenden örtlichen Ereignisse kann nicht abgeschlossen werden, ohne den Blick auf den Sektor der verwaltungspolitischen, d. h. die mit den hessischen Regierungs- und Verwaltungsbehörden zusammenhängenden, Geschehnisse dieses Zeitraums zu lenken. Da ist zunächst auf einige kurz vor dem Kriege eingetretene Ereignisse hinzuweisen, die sämtliche mit der Eigenschaft Wimpfens als Sitz eines ihm durch seine Exklaveneigenschaft zugestandenen Kreisamtes zusammenhängen:
- Am 10. 04. 1869 wird nach 40-jähriger Dienstzeit der seit 1853 tätige LANDRICHTER DR. KONRAD HEYER auf sein Nachsuchen pensioniert und mit dem Ritterkreuz 1. Klasse des Philipps-Ordens ausgezeichnet.
- Zu seinem Nachfolger wird mit Wirkung vom 10. 04. 1969 LANDRICHTER FRANZ CARL WILHELM CESSNER bestellt. Die persönlichen und dienstlichen Daten desselben sind:[54]
– geboren in Gießen am 10. 01. 1813, katholisch;
– am 31. 01. 1831 Heirat mit Maria Therese Hermine Wiegand, geb. 17. 04. 1897 in Fulda, Tochter von Medizinalrat Dr. Ignaz Wiegand u. Hermine Dittmar, beide zuletzt in Fulda; Eltern: Johann Matthias Cessner, Rechnungsrat und Maria Susanna Glaser, beide zuletzt Gießen;
– zunächst Hofgerichts-Sekretariats-Akzessist,
– ab 11. 07. 1845 Assessor mit Stimme beim Landgericht Altenschlirf,
– ab 28. 04. 1849 an das Landgericht Schotten versetzt,
– ab 06. 04. 1853 Assessor am Landgericht Großkarben und Vilbel,
– 1862/63 Assessor in Hungen,
– ab 02. 06. 1863 Landrichter in Ulrichstein. - Im März 1870 erlässt Ludwig III. von Gottes Gnaden Großherzog von Hessen und bei Rhein etc. ein von den Landständen beschlossenes Gesetz zur Errichtung von Kreiskassen zur Bestreitung (insbesondere im Falle einer Mobilmachung entstehender) kreisbezogener Kosten der verschiedensten Art, von dem der Kreis Wimpfen als einziger im Großherzogtum – durchaus vom Bürgermeister und Gemeinderat akzepziert – ausgenommen bleibt.
- Am 5. April 1870 stirbt der seit Mai 1852 (also 18 Jahre) in Wimpfen tätig gewesene KREISRAT REGIERUNGSRAT DR. FRIEDRICH GUSTAV SPAMER im Alter von 67 Jahren. Dies verursacht in Wimpfen Besorgnis, weil in der Ständekammer bereits zuvor beantragt worden ist, das (kleinste) Kreisamt Wimpfen (des Großherzogtums Hessen) aufzuheben. So sieht sich BÜRGERMEISTER ERNST veranlasst, nach Darmstadt zu reisen „und Erkundigungen darüber einzuziehen“.
- Das Ergebnis ist, dass bereits durch Dekret des Großherzogs und des Innenministers Dalwigk vom 23. April 1870 zum Nachfolger der schon pensioniert gewesene REGIERUNGSRAT CARL FUHR mit einem jährlichen Gehalt von 1.600 Gulden (davon 1.200 fl zu Lasten des Budgets und 400 fl zu Lasten des Pensionsfonds) vom Tage des Dekrets an bestimmt ist. Durch diese Regelung behält Wimpfen zwar (mindestens vorläufig) seine Kreiseigenschaft. Doch wird die Stelle, wie dies bereits früher im Falle des LANDRATES HEINRICH BEECKE (1821 – 1832) und des KREISRATES FERDINAND FREIHERR VON STEIN (1836 – 1848) der Fall gewesen ist, mit einem bereits pensioniert gewesenen Nachfolger besetzt. Dieser Umstand geht aus den dienstlichen Daten hervor[55]. Hiernach war der neue KREISRAT CARL FUHR:
– zunächst Hofgericht-Sekretariats-Akzessist, Landratsvikar zu Vöhl;
– ab 30. 08. 1832 Kreissekretär des Kreises Friedberg,
– ab 22. 10. 1842 Kreisrat des Kreises Alsfeld,
– ab 01. 08. 1848 Dirigent der Regierungskommission zu Nidda,
– ab 12. 05. 1852 Kreisrat des Kreises Vöhl,
– ab 02. 01. 1867 pensioniert gewesen.
Der Ernannte tritt seinen Dienst am 23. Mai 1870 an und wohnt wie seine Vorgänger in der im Obersten Stockwerk des Rathauses befindlichen Dienstwohnung.
Auch wenn die Wiederbesetzung der Stelle des Kreisrates erfolgt war, so verhieß eine solche mit einem bereits pensioniert Gewesenen nichts Gutes; denn man musste damit rechnen, dass binnen kurz oder lang denn doch der Verlust der Kreiseigenschaft anstehen werde. Somit ist es verständlich, dass, beflügelt von der Vereinigung der Länder Deutschlands durch die Gründung des Deutschen Kaiserreiches, lange zurückgehaltene Regungen der Loslösung vom Großherzogtum Hessen und damit der Beendigung des (bezogen auf Baden und Württemberg) Enklaven- und (bezogen auf Hessen) Exklavendaseins wahrzumachen versucht wurden. Darauf weist jedenfalls ein im Wimpfener Stadtarchiv vermutlich von Stadtarchivar Oberreallehrer Heinrich Volz um 1930 aufgefundener und in Schreibmaschinenschrift übertragener Entwurf zweier Schreiben hin, deren weder Datum noch Unterschrift tragenden Originale oder Abschriften leider verschollen sind. Die Texte seien zunächst ohne Vorkommentar in ihrer Gänze wiedergegeben:
1. Text:
„E n t w u r f
An Großherzogliches Ministerium des Innern zu Darmstadt!
Die unterthänigst Unterzeichneten glauben sich keiner Verletzung ihrer Unterthanenpflicht schuldig zu machen, wenn sie angesichts der Veränderungen, welche durch den Krieg in unserem deutschen Vaterland hervorgerufen worden sind, und im Gefolge des Friedensschlusses möglicherweise noch eintreten werden, die Aufmerksamkeit Einer hohen Regierung auf die Zustände von Wimpfen zu lenken und die Frage aufzuwerfen sich gehorsamst erlauben, ob nicht im Wege der Unterhandlung mit den Nachbarstaaten Württemberg und Baden unter Vermittlung der Reichsregierung das so vielfach unzuträgliche Enclave-Verhältniß anderweitig geordnet werden könnte?
Hohe Staatsregierung wolle uns gestatten, in Kürze darzulegen, was uns diesen Gedanken aufdrängt und glauben läßt, daß auch Eine hohe Regierung, wenn nicht im Interesse an seiner Ausführung, so doch keinen Grund habe, ihn übel aufzunehmen.
Wie unsre alte Reichsstadt im Jahr 1803 in den Besitz des Großherzogthums gekommen, ist bekannt. In jener Zeit und bis zur Gründung des Zollvereins war die Zersplitterung, die Abgetrenntheit von unserer Umgebung, wenn auch mannigfach vom Uebel, so doch eine – vom Standpunkt abstracter Gesetzlichkeit freilich trüb fließende – Quelle der Prosperität, und dieser Umstand, in Verbindung mit der Entdeckung unserer Salzquelle machte den Besitz Wimpfens zu einem sehr werthvollen für das Großherzogthum. Durch das Fallen der Zollschranken, neuerdings durch die Aufhebung des Salzzehntens und die Eröffnung der Eisenbahn ist aber dieß Alles für uns wie für das Großherzogthum wesentlich anders geworden und die Folgen unseres Enclaveverhältnisses sind bloß noch nachtheiliger Art. In einer Zeit, wo Alles sich zusammenschließt, sind wir nur in äußerlichem Zusammenhang mit unserer unmittelbaren Nachbarschaft und das Mutterland hat wenig Interesse mehr an der Pflege der Beziehungen zu uns.
Tathsache ist, daß die Einwohnerzahl des Kreises (ca. 3.000), abgesehen von der Zählung von 1867, wo viele Eisenbahnarbeiter da waren, stationär bleibt, ja sogar abnimmt, wie denn seit vielen Jahren keine Neubauten vorkamen als etwa bei Brandfällen. Tathsache ist auch, daß die Steuerkraft, die Erwerbs- und Creditfähigkeit sinkt und das öffentliche Leben täglich mehr verkümmert.
Man sollte gewiß meinen, daß ein Ort von fast 2.400 Einwohner, in einer Gegend von seltener Schönheit, an einer lebhaften Wasserstraße und Eisenbahn, mit einem bedeutenden Gemeindevermögen wachsen und gedeihen müsse. Die umgekehrte Erscheinung kommt lediglich auf Rechnung unserer politisch isolirten Lage.
Während Wimpfen als Theil eines geschlossenen Ganzen naturgemäß der Sitz vieler Behörden sein müßte, Verwaltung und Rechtsprechung wenigstens leicht zugänglich und dabei so wohl gepflegt und beaufsichtigt sein müßten, wie sie es tathsächlich nicht sind, finden wir uns in den wichtigsten Dingen an entfernte Behörden gewiesen, die unsere Verhältnisse nicht kennen und die Aemter, welche man nicht vermeiden kann, hier zu halten, werden – der Kleinheit der Verhältnisse entsprechend besetzt und kontrollirt. Dabei ist es zu befürchten, daß die bevorstehende Organisation der Gerichte und des Verfahrens dieses Verhältniß noch schlimmer machen werden, sofern die Tendenz besteht, alle größeren Sachen an Collegialgerichte zu weisen, von denen natürlich in Wimpfen keines errichtet werden kann.
Fast noch wichtiger ist ein anderer Umstand. Während nämlich Wimpfen ein ausnehmend geeigneter Platz für Schulen höherer Gattung wäre, müssen wir, zumal auch die Volksschule Vieles zu wünschen übrig läßt, unsere Kinder in entfernte Orte schicken und es kann sich daher Niemand entschließen, in unserem Städtchen, das doch sonst so viel Anziehungskraft hätte, seinen Aufenthalt zu nehmen.
In politischen Dingen endlich, namentlich bei Wahlen, sind wir zusammengelegt mit Bezirken, die ganz verschiedene Interessen haben und, wie die neueste Reichstagswahl gezeigt hat, uns nahezu als nicht vorhanden betrachten. Theilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit ist die natürliche Folge.
Beim besten Willen kann das Mutterland das nicht ändern; unwillkürlich muß die nöthige Fürsorge für die Interessen des kleinen, für die Staatsverwaltung fast lästigen Bezirks fehlen, wie wir denn auch seit 1849 nicht das Glück gehabt haben, unsern allergnädigten Landesherrn zu sehen. Was Wunder daher, daß die Gewerbebank der Stadt Heilbronn, auf die wir doch angewiesen sind, in Folge der mit unserer Rechtspflege gemachten Erfahrungen förmlich Beschluß gefaßt haben, keinen Credit mehr nach Wimpfen zu geben.
Diese Gründe müssen in uns den Wunsch nach einer Aenderung unserer politischen Lage wach rufen, sind aber auch genügend, um dem Mutterlande die Trennung leicht zu machen.
Wenn wir uns nicht irren in der Annahme, daß jetzt Gelegenheit geboten ist, für das Großherzogthum Hessen einen wünschenswerthen Ersatz und für uns eine den geschilderten Interessen zusagende Stellung zu Einem der Nachbarstaaten zu erlangen, so dürfen wir gewiß hoffen, mit unserem Vortrag nicht mißverstanden zu werden.
Von den beiden uns umgebenden Staaten wäre es nun wohl Württemberg, das am leichtesten durch passende Gestaltung seiner Nachbarbezirke uns alle Vortheile einer Bezirksstadt zuwenden könnte, die wir bisher entbehren und wir zweifeln nicht, daß es der väterlichen Fürsorge einer erlauchten Regierung, deren Weisheit wir vertrauen, gelingen werde, diese Vortheile, in deren Aussicht hauptsächlich wir uns entschließen können, die sonst liebe Verbindung mit Hessen aufzugeben, bei der etwaigen Abtretung uns zu sichern, wie es gewiß auch Mittel gibt, im Weg des Staatsvertrags die etwa collidirenden Interessen der Saline wahrzunehmen und zu sichern.
In der zuversichtlichen Hoffnung, daß Großh. Ministerium unserer freimüthigen Bitte ein freundliches Gehör schenken werde, verharren wir unterthänigst“
2. Text:
„Sr. Exzellenz dem Grafen v. Bismarck – Schönhausen, Kanzler des deutschen Reiches!
Euer Exzellenz
nahen sich die unterzeichneten Bewohner der großherzoglich Hessischen Gemeinde Wimpfen mit ebenso ehrerbietigen als herzlichen Glückwünschen dazu, daß es Euer Exzellenz vergönnt war, des deutschen Reiches Einheit und Macht in einer Fülle wieder herzustellen, wie sie das deutsche Volk und insbesondere die ehemalige Reichsstadt Wimpfen nicht gekannt haben. Welch’ großen Antheil an dem hohen Werk Euer Exzellenz gebührt: die Geschichte schreibt es mit ehernem Griffel in ihre Tafeln ein und ein dankbares Volk überliefert den Namen Euer Exzellenz untrennbar von denen des ruhmreichen Kaisers Majestät und der heldenmüthigen Führer unseres tapferen Heeres von Generation zu Generation.
Je kleiner aber, je zersplitterter das Staatswesen, desto größer war das Bedürfnis, desto fühlbarer der Mangel einer starken Reichsgewalt, und desto hoffnungsreicher wenden sich die Blicke der neu erstandenen Reichsregierung zu mit der Zuversicht, daß sie, so weit es an ihr liegt, die einzelnen Glieder des Reiches, die im Laufe der Zeit, gewaltsam oder zufällig, so vielfach ein- und ausgerenkt worden sind, zu einer gesunden Gestaltung bringen werden.
Unser Städtchen, welches im Reichsdeputationshauptschluß von 1803 dem Großherzogthum Baden, dann im Weg des Tausches dem Großherzogthum Hessen zugewiesen wurde, befindet sich in der ganz unnatürlichen Lage einer Enclave zwischen Baden und Württemberg.
Welche Inconvenienzen ein solcher Zustand mit sich führt, ist zu bekannt, als daß wir viel darüber sagen dürften und wir halten daher auch mit speciellen Klagen hier zurück.
Euer Exzellenz belieben aus der beigelegten Abschrift einer Eingabe an unsere hohe Regierung zu ersehen, daß wir, in schuldiger Loyalität allerdings, aber doch unumwunden das Bedürfniß unseres Landstrichs und den Wunsch nach Anschluß an Einen der Nachbarstaaten, namentlich wenn gewisse Voraussetzungen für unser Besserbefinden von demselben erfüllt werden können, ausgesprochen haben.
Wenn Euer Exzellenz mitten unter den gewaltigsten Arbeiten einen Augenblick finden, um die Vermittlung der Reichsregierung für das Zustandekommen der angedeuteten Uebereinkunft der Nachbarstaaten eintreten zu lassen, so werden Euer Exzellenz das Wohl eines, wenn auch kleineren, aber doch wichtigen Theiles von Süddeutschland gesichert und die im Volke keimende Anhänglichkeit an Kaiser und Reich mächtig gefördert haben.
Wir verharren in tiefster Ehrerbietung.“
Der Transkriptor oder vielleicht auch ein späterer Entdecker dieses aus der Sicht der Behörden brisanten Schriftsatzes fügt diesem in Schreibmaschinenschrift auf der Rückseite Folgendes bei:
„Anmerkung
Auf Grund einer Bleistiftnotiz ist zu vermuten, daß die Eingabe von Professor Eck verfasst worden ist. Es ist nicht bekannt und auch nicht aktenkundig, ob eine Neuregelung der Wimpfener Verhältnisse in dieser Form angestrebt worden ist. Es ist jedoch anzunehmen, dass die feststellbare Initiative des Hessischen Staates in Wimpfener Angelegenheiten (Gründung der Realschule usw.) – etwa um diese Zeit – auf die Stimmung in der Wimpfener Bevölkerung zurückgeht, die in der Denkschrift zum Ausdruck kommt.“
Was den ersten Satz der „Anmerkung“ betrifft, so kann PROFESSOR ECK, den wir in Wimpfen als Lehrer an der Realschule erst von 1885 ab finden, die undatierten Briefentwürfe nicht verfasst haben. Denn diese dürften ganz eindeutig in den Monaten nach der am 3. März 1871 stattgefundenen Reichstagswahl verfasst worden sein. Nachweise dafür ergeben sich vor allem durch die folgenden Textstellen, denen als Beleg hier in Klammer jeweils die Zudatierung beigefügt ist:
- „durch den Krieg in unserem deutschen Vaterland“ (gemeint der Krieg von 1870/71);
- „angesichts der Veränderungen, welche durch den Krieg (von 1870/71) … und im Gefolge des Friedensschlusses (vom 10. 05. 1871) möglicherweise noch eintreten werden“;
- „neuerdings durch die (1867 erfolgte) Aufhebung des Salzzehnten“;
- „die neueste Reichstagswahl“ (vom 3. 3. 1871);
- ganz abgesehen von den im zweiten Schreiben dem „Kanzler des deutschen Reiches“ dargebrachten Glückwünsche für das Gelingen der Herstellung „des deutschen Reiches Einheit und Macht“.
Die Bezeichnung „Eingabe“ induziert irrtümlicherweise, dass die Schriftsätze an die beiden Adressaten, nämlich an das Großherzoglich-hessische Ministerium des Innern sowie Reichskanzler Bismarck [dann natürlich auch versehen mit den Unterschrift(en) des Bürgermeisters und Gemeinderates oder gar eines Teils oder aller Bürger], tatsächlich abgegangen sind. Das ist aber nicht anzunehmen und bleibt auch beim Schreiber der Anmerkung offen („Es ist nicht bekannt und auch nicht aktenkundig“); denn die Schriftsätze sind ja mit „Entwurf“ betitelt. Und in der Tat enthalten weder die Gemeinderatsprotokolle noch die Pfarrchroniken von 1871 ff. irgendwelche Spuren einer Initiative solch gewichtiger Art, die sicher ja auch amtliche Antwortschreiben etc. nach sich gezogen hätte. Somit erscheint es sicher, dass es bei dem Entwurf (ob eines Einzelnen oder einer kleineren oder gar größeren Gruppe, muss offen bleiben) geblieben ist.
Auch wenn die beabsichtigte Initiative, welche bei Absendung der Schreiben die erste dieser Art im 1802/03 begonnenen Zeitraum von Wimpfens Exklavenstatus gewesen wäre, in den Anfängen stecken geblieben ist, so spiegeln die vorgebrachten Argumente sowohl die Missgestimmtheit zumindest kritisch denkender Zeitgenossen als auch die Faktenlage, sprich den bereits in Band 2, Unterkapitel G 11, S. 539 – 551, sowie H 4, S. 610 – 610, dargelegten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Stillstand Wimpfens, wider:
- völlige Stagnation der Bautätigkeit und der Einwohnerzahl;
- unzureichend-schlechte Besetzung und Kontrolle der wenigen vorhandenen Kreisämter;
- Sinken der Steuerkraft und der Erwerbs- und Kreditfähigkeit, Verkümmern des öffentlichen Leben;
- fehlende höhere Schulen; Vereinigung in politischen Dingen mit desinteressierten entfernten Wahlkreisen;
- mangelndes Interesse des Mutterlandes an der Pflege der Beziehungen;
- Ausbleiben eines Herrscherbesuches seit 1849;
- fehlende Kreditvergabe nach Wimpfen seitens der unentbehrlichen Gewerbebank Heilbronn infolge schlechter Erfahrungen mit der örtlichen Rechtspflege.
Eingeschoben in die Darlegung der Misshelligkeiten findet sich als Grundtenor der Ursachendarlegung der Hinweis auf:
- „das unzuträgliche Enclave-Verhältnis“;
- „das Mutterland hat wenig Interesse mehr an der Pflege der Beziehungen zu uns“;
- „kommt lediglich auf Rechnung unserer politisch isolierten Lage“.
Schlüsselsätze der Argumentation in Richtung Loslösung:
- „Beim besten Willen kann das Mutterland das nicht ändern; unwillkürlich muß die nöthige Fürsorge für die Interessen des kleinen, für die Staatsverwaltung fast lästigen Bezirks fehlen.“
- „Diese Gründe müssen in uns den Wunsch nach einer Aenderung unserer politischen Lage wach rufen, sind aber auch genügend, um dem Mutterland die Trennung leicht zu machen.“
Auslöser für diese Idee der Lösung von der „sonst lieben Verbindung mit Hessen“ durch die Abtretung an Württemberg als die wohl eheste Möglichkeit war die im Zuge des Krieges von 1870/71 erfolgte Gründung des Deutschen Reiches mit der daraus erwachsenen Hoffnung, dass die neue übergeordnete „starke Reichsgewalt“, verkörpert in Reichskanzler Bismarck, regelnd Einfluss nehmen könnte. Deshalb entwirft man auch das für sich sprechende lobhudelnde Parallelschreiben an denselben, in dem am Schluss „die im Volke keimende Anhänglichkeit an Kaiser und Reich“ ins Feld geführt wird. Doch war und blieb die Hoffnung auf des Reichskanzlers Hilfe ein Trugschluss, weil im Falle selbst einer mit allen erdenklichen Unterschriften ausgestatteten Absendung dem Ersuchen um ein Ausscheiden aus dem hessischen Staatsverband keinerlei Erfolg beschieden gewesen wäre. Denn der Wille der „Untertanen“ wog im deutschen Kaiserreich wenig. Und Kanzler und Reichsregierung konnten verfassungsmäßig in innenpolitische Angelegenheiten der Länder nicht eingreifen und mussten sich vor allem auch hüten, die auf Wahrung ihrer Eigen- und Sonderrechte pochenden Länder zu bevormunden. Überdies hätte die klar ausgesprochene Erwartung, bei einem Übergang an das Königreich Württemberg „alle Vortheile einer Bezirksstadt“ zugesprochen zu bekommen, selbst im Falle der Zustimmung des Mutterlandes Hessen, die Initiative mit Sicherheit zu Fall gebracht, weil dadurch elementare Interessen insbesondere der württembergischen Nachbar-Bezirksstädte Neckarsulm und Heilbronn beeinträchtigt worden wären. Möglicherweise wäre einer auf das Großherzogtum Baden gerichteten Eingliederung eher Chancen einer Realisierung gegeben gewesen; denn im angrenzenden badischen ostwärtigen Kraichgau um Rappenau dürften damals im Gegensatz zum württembergischen Umraum potente gemeindliche Gegenspieler nicht vorhanden gewesen sein. Wenn man nach einem Grund sucht, warum der Entwurf sang- und klanglos in den Akten verschwunden ist, dann dürfte dieser nicht zuletzt in diesem vorgenannten Umstand der zu erwartenden Widerstände seitens Heilbronn und Neckarsulm zu suchen sein.
Offenbar blieb in den Köpfen der Wimpfener in den der Reichsgründung gefolgten Jahren die Zugehörigkeit zum Großherzogtum Hessen unhinterfragt, zumal ja nunmehr die württembergischen, badischen und hessischen Bewohner des Neckarunterlandes und Kraichgaus unter dem Dach des Reiches vereint und so die Landesgrenzen wachsend als weniger trennend empfunden wurden. In diesem Zusammenhang sei abschließend noch auf ein grenzübergreifendes Ereignis hingewiesen, das Anfang Juni 1874 anlässlich der Generalversammlung der Saline Ludwigshalle sich im „Ritter“ abgespielt hat:
Während des dort aus diesem Anlass stattgefundenen mittäglichen Festessens war auch eine große Anzahl von Mitgliedern der Zweiten Württembergischen Kammer (Fraktion der Deutschen Partei) mit ihrem PRÄSIDENTEN WEBER anwesend, denen sich Gesinnungsgenossen aus Heilbronn, Neckarsulm, Jagstfeld usw. angeschlossen hatten. Trotz der betriebsgerichteten Anstrengungen des Morgens, der sommerlichen Hitze und des Essens wurden viele Reden gehalten und dabei menschen- und länderverbindende Hochs vielerlei Art dargebracht – und zwar:
– auf die deutsche Einigkeit,
– den Fürsten Bismarck,
– den hessischen resp. deutschen Schoppen,
– auf den nationalen Adel Deutschlands u. a. m.
Auf eine Äußerung von OBERAMTSRICHTER GANZHORN aus Neckarsulm über „die blinden Hessen“ hin kam es auch zu einem Hoch auf Hessen. „Präsident Weber“, so endet der Bericht, „machte den Schluß mit einer interessanten Auseinandersetzung über die Ursachen des dreißigjährigen Krieges und suchte nachzuweisen, daß an diesem und an der Schlacht bei Wimpfen die protestantische Theologie, speciell die Theologische Fakultät zu Tübingen, die Schuld trage. Er schloß mit einem zweiten Hoch auf Bismarck.“
Das hessich-exklavierte Wimpfen der Gegenwart spielt bei dieser Feierstunde also keine Rolle, sondern das historische Wimpfen sowie das trotz all der beschworenen Momente der Einigkeit und Zusammengehörigkeit in den Worten zu dem von Präsident Weber ausgebrachten letzten Hoch sich abzeichnende Wiederaufleben der konfessionellen Spaltung in ein protestantisches und ein katholisches Lager, wovon im Fortgang der Jahre und Jahrzehnte nach der Reichsgründung immer wieder und oft vehement die Rede sein wird.
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[50] Siehe: Jordan, Alexander, u. a. m., 2010, S. 30 – 34, S. 98 – 102
[51] Aus: Jordan, Alexander, u. a. m., 2010, S. 32
[52] Jordan, Alexander, u. a. m., 2010, S. 48, 49, 65, 76, 77, 90
[53] Vorlage erhalten von Otto Maisenhälder
[54] Schnitzer, Paul, 1977, S. 215
[55] Schnitzer, Paul, 1973, S. 48